Schlagwort-Archive: Bewegung

Steigbügelhalter und Heuschrecken

Peter Grohmann

Meine Omi Glimbzsch in Zittau schlägt die Fusion von Deutscher Bank und Deutscher Bahn vor: Zwei Pleiteunternehmen mit dem neuen Logo „Commerz“. Ich stelle anheim. Die Unternehmen könnten dann, wenn die Firmen ihre Prozesse hinter sich haben, sie mit Steuermitteln ordentlich saniert worden sind und die Zahlen wieder stimmen, an bekannte Heuschreckler gehen. Es sind meistens nur die Zahlen, die irritieren. mehr…

Dr. Annette Ohme-Reinicke
Rede zum Neujahrsempfang der AnStifter am 5.1.2017

In die Hände spucken für ein Wunder-volles Jahr

Hallo und willkommen im neuen Jahr!

Das Jahr 2017 ist selbstverständlich eine Erfindung.

Lebten wir in Nepal, hätten wir jetzt das Jahr 2073, das neue Jahr beginnt dort erst im April. Im Iran zählen sie gerade das Jahr 1395.

Und in Taiwan beginnt jetzt das Jahr 105, wegen der Gründung der Republik China 1912. Hätten wir noch die Zählung der ersten Republik der Weltgeschichte, dann wären wir jetzt weiter, nämlich im Jahr 2770. Die Gründung der Stadt, „ab urbe condita“, diente der römischen Republik als Beginn ihrer Zeitrechnung. Vielleicht könnte man das ja in der ein oder anderen Weise mit der Forderung nach „Recht auf Stadt“ zusammenbringen. Und mancher ernst zu nehmende Philosoph meint ja, es sei durchaus zweifelhaft, ob das römische Imperium überhaupt untergegangen ist.

Im Jahr 368 befänden wir uns, wenn wir die Zeitrechnung der Französischen Revolution, den republikanischen Kalender, beibehalten hätten. Von 1792 bis 1805 zählte man das Jahr I der Freiheit, dann das Jahr II der Freiheit, das nächste als ein Jahr der Gleichheit und so weiter. Dummerweise hatten die Revolutionäre eine 10-Tage-Woche eingeführt. Es gab also nur alle 10 Tage einen Feiertag und das fanden die Leute nicht so gut.

Hätte sich der „ewige sowjetische Revolutionskalender“ durchgesetzt, dann wären wir jetzt im Jahr 98. Aber auch diese Zeitrechnung kam nicht gut an. Denn in Russland wurde mit dem neuen Kalender der allgemeine Wochenrhythmus aufgelöst und der Alltag der Menschen an die Industrieproduktion angepasst. Als viele Leute am Sonntag – den es offiziell gar nicht mehr gab – nicht mehr zur Arbeit kamen, wurde die Zeitrechnung 1940 wieder abgeschafft.

Besonders weitsichtig, was die Berechnung von Zeit angeht, waren die Maya-Indianer. Ihre Zählung ging von 3114 v. C. bis mindestens 4772 n. C. Genauere Auskünfte sind leider verlorengegangen. Denn die christlichen Eroberer aus Europa waren religiöse Fundamentalisten. Sie massakrierten nicht nur die Ureinwohner Lateinamerikas, sondern zerstörten – gleich islamistischer Terroristen – auch die kulturelle Stätten und Erfindungen der Mayas, wie etwa deren Kalendersysteme.

Glücklicherweise wurde auch in Stuttgart eine neue Zeitrechnung erfunden. Allerdings können wir damit kein neues Jahr anfangen, sondern wir müssten in Wochen feiern: Gerade befinden wir uns in der 335. Aktionswoche gegen „Stuttgart 21“.

Wann Jesus von Nazareth geboren wurde steht übrigens nicht so genau fest. Klar ist nur: Es war nicht vor 2017 Jahren, sondern vermutlich vor 2021 Jahren. Wir sind also mit unserer Zählerei verordneter Maßen irgendwie immer zu spät.

Wie dem auch sei: Grundsätzlich ist es gut und richtig, davon überzeugt zu sein, dass etwas Neues bevorsteht, zum Beispiel ein neues Jahr. Denn das Neue grenzt sich vom Alten ab und darin steckt die Erwartung und vielleicht auch die Erfahrung der Möglichkeit, dass es besser werden kann. Warum sonst sollten wir das Neue begrüßen?

Und was zeitrechnerisch ganz klar ist: Wir befinden uns im Jahr 28. Im Jahr 28 der AnStifter. Denn die wurden 1989 gegründet, das steht fest. Was für eine großartige Orientierungshilfe!

Wenn man sich anschaut, was sich in diesem guten viertel Jahrhundert verändert hat, kann man nur sagen: Gut, dass es Initiativen wie die Anstifter gibt, wer weiß, was sonst noch alles passiert wäre.

Selbstverständlich stellt sich die Frage: Was haben wir von diesem neuen Jahr zu erwarten und was dürfen wir hoffen?

Ziemlich sicher ist: Es wird gewählt werden. Die Bundestagswahl im September wird wahrscheinlich – wieder einmal – die Frage nach dem geringsten Übel stellen. Es ist zu befürchten, dass wieder einmal der Streit für Mehrheiten als wichtiger erklärt wird, als eine Auseinandersetzung um die Wahrheit. Gerade in solchen Zeiten braucht es ein Anstiften zum Selber-Denken.

Wahrscheinlich wird auch im kommenden Jahr der Abstand zwischen Arm und Reich noch größer werden. Immerhin gibt es inzwischen Experimente mit dem Grundeinkommen, etwa in Finnland oder Kanada. Solche Versuche sind wichtig, denn sie wirken auch gegen diffuse Furcht und Angst, die heute um sich greifen. Hass auf Unbekanntes, Misstrauen und Gewalt, gedeihen dann am besten, wenn die Angst vor der Zukunft wächst. Wenn etwa die Frage, ob man über die Runden kommt, ob es die Kinder schaffen, ein besseres Leben zu führen, ob man diese oder jene Leistung bringen kann, ob der Arbeitsvertrag verlängert wird, ob die Miete noch mehr steigt oder die Rente weiter gekürzt wird, wenn diese Fragen plötzlich das sind, worum sich das Leben dreht, dann entsteht diffuse Angst, manchmal Panik.

Denn dann wird man zum Zuschauer des eigenen Lebens und hat das Gefühl, sich selber hinterher zu rennen. Und jeder kennt wohl die Erfahrung, dass man als Zuschauer einer bedrohlichen Situation oft mehr Ohnmacht und Angst erlebt, als derjenige, der in irgendeiner Weise selbst am Geschehen teilnimmt und handeln kann. Sei es auch noch so brenzlig.

Der passive Zuschauer dagegen, auch der Zuschauer des eigenen Lebens, bleibt stets irgendwie im Dunkeln. Man sieht ihn nicht, er ist nicht öffentlich, er ist arm dran.

Der arme Mensch, so schreibt John Adams: „…tappt im Dunkeln. Die Menschen achten seiner nicht. Unbemerkt wandert und irrt er umher. Inmitten einer Menschenmenge, in der Kirche, auf dem Marktplatz … ist es so dunkel um ihn, als wäre er in einem Dachstübchen oder im Keller. Niemand missbilligt ihn, tadelt ihn oder macht ihm Vorwürfe; er wird bloß nicht gesehen … Einfach übersehen zu werden und sich dessen bewusst zu sein, ist unerträglich.“

Armut liegt nicht nur in materieller Not, sondern auch in der Dunkelheit des Nicht-Gesehen-Werdens, des Nicht-Teil-der-Öffentlichkeit-Seins, meint Hannah Arendt.

Aber wer wird sich der Aufgabe annehmen, gesellschaftliche Ausgrenzung, Hierarchien und soziale Ungerechtigkeit ins Licht der Öffentlichkeit zu holen, zu handeln und zum Handeln anzustiften? Eine Arbeiterbewegung, eine Bürgerbewegung, eine Studenten- oder Frauenbewegung, die Anstifter?

Der Philosoph Slavoj Zizek zitiert dazu einen bekannten Spruch der Hopi-Indianer: „Wir sind diejenigen, auf die wir gewartet haben.“

In diesem Sinn: Ein Wunder-volles neues Jahr!

*) Rede zum Neujahrsemfang der AnStifter am 5.1.2017 um 17 Uhr im Willi-Bleicher-Haus Stuttgart (DGB-Haus). Dr. Annette Ohme-Reinicke ist Philosophin und (die neue) Vorsitzende des Bürgerprojekts Die AnStifter (www.die-anstifter.de)

Nachgeschaut
Die Friedensbewegung 2014

Am Donnerstag standen sie plötzlich in der DenkMacherei: Zwei junge Männer, die unter dem Motto „Friedensbewegung 2014“ innerhalb von zwei Wochen in Stuttgart – genauer am Samstag, den 12. April um 13 Uhr auf dem Schlossplatz – eine Demonstration aus dem Boden stampfen wollen. Auf Facebook haben sich die beiden kennengelernt – und haben sich nach eigener Aussage vorher noch nie politisch engagiert  und nur wüssten, wie man „Demo“ schriebe. Ihr erster Anlaufpunkt sei die Mahnwache gegen Stuttgart 21 am Hauptbahnhof gewesen. Wer sonst sollte ihnen bei ihren ersten Schritten weiterhelfen? Die Mahnwache schickte sie dann ins Parkschützerbüro weiter, wo sie auf die lokale Rechtshilfegruppe, den AK Jura, stießen. Der impfte sie mit den rechtlichen Fragen zur Versammlungsanmeldung und zu Versammlungen insgesamt, leitete sie weiter zum Ordnungsamt und gab ihnen den Tipp, anschließend bei mir in der DenkMacherei vorbeizuschauen.

Zwei frisch gebackene Versammlungsleiter sind sie also. Thematisch kreisen sie rund um Frieden, „Volkssouveränität“, Gentechnik, Banken und das Freihandelsabkommen mit den USA. Sie berichteten davon, wie groß die Bewegung schon auf Facebook sei, dass sich bundesweit schon an die zwanzig Gruppen gefunden hätten, die Demos organisieren wollten und wie sie in dem Netzwerk ihr Projekt gegen Kritik verteidigten. Über eine Stunde lief das intensive Gespräch. Wir unterhielten uns über Fragen der Mobilisierung vom Presserecht bis zu Terminplänen und großen Verteilern, sammelten mögliche RednerInnen und Zielgruppen und versuchten, den Bedarf an Bühnentechnik zu bestimmen.

Ich bin begeistert vom Wissenshunger der beiden – aber auch misstrauisch: Klar, ich bekomme gerade nicht mit, was auf Facebook läuft. Dafür habe ich einfach keine Zeit. Doch wie lief es mit anderen Internet-Protesten? ACTA ging weitgehend in die Hose. Teilnehmende waren häufig enttäuscht von der Unprofessionalität, engagierten sich aber auch nicht weitergehend, um das Manko zu beheben. Zumindest mein Bürokollege Roland Blach, seines Zeichens Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft Baden-Württemberg, hat die Initiative schon auf Facebook entdeckt und „geliked“.

Was mir besondere Schwierigkeiten bereitet ist der für sie wichtige Begriff der Volkssouveränität. Immer wieder kommt in ihren Ausführungen das Wort Volk auf. Handelt es sich um eine rechte Unterwanderung oder um einen unbedachten Umgang? Ich tippe bisher eher auf letzteres zumal sie sich klar von Extremismus distanzieren, stolz darauf sind, wie viele Menschen mit ausländisch klingenden Nachnamen sich auf Facebook mit ihnen solidarisieren und sie sich als Mitte der Gesellschaft bezeichnen.

Freitag trafen wir uns erneut: Sie hatten mich zu einem ersten Treffen ihres Orgakreises auf die Fildern eingeladen. Sechs Männer und eine Frau debattieren Stunden über Themen, Motto, Aufgabenteilung und Umgang auf Facebook. Anschließend steht die Veranstaltung, die nur die erste in einer ganzen Reihe werden soll, unter dem Titel „FRIEDEN in Deutschland, in Europa, weltweit!!! DEMOKRATIE durch echte Mitbestimmung der Bürger/innen!!! GENMAIS STOPPEN Freihandelsabkommen (TTIP) verhindern!!!“

Natürlich ist diese Themenmischung immer noch problematisch. Schließlich lassen sich hinter einer thematisch klar abgegrenzten Demonstration mehr Menschen versammeln als hinter einer Mischung, die weitestgehend darauf ausgelegt ist, die Bedürfnisse im Orgateam abzudecken. Doch in dieser Situation, in der alle aufgeregt sind, ist das Ergebnis wahrscheinlich das erreichbare Maximum.

Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht.

PS: Eine Debatte zur Friedensbewegung insgesamt läuft auf den Nachdenkseiten