BürgerInnenbrief 145

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

eigentlich sind es schöne Bilder, die uns in diesen Tagen aus Brasilien erreichen – Bilder, auf die wir fast neidisch sind: Da steht das Volk auf. Und unser Teflon-Sepp Joseph Blatter kann’s so wenig fassen wie Franz Beckenbauer und Uli Hoeness, Merkels ziemlich beste Freunde. Komisch – in Stuttgart demonstrieren sie gegen den nagelneuen Bahnhof mit anständigen Klos, ja, die undankbaren Leute sind nicht mal mit einer neuen Regierung zufrieden – und in Brasilien demonstriert eine fußballwilde Welt gegen den Fußball, sagt sich die Schickeria.. Die Wahrheit ist einfacher, und sie macht klar, was diese Proteste verbindet. In Brasilien demonstrieren Millionen gegen ein korruptes Fußball-Geschäft, Gigantismus, die unglaubliche Verschleuderung von Steuermitteln für den Bau völlig überdimensionierter Arenen, die nach der Sause, ob nu’ nach der Fußball-WM 2014 oder den Olympischen Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro, kaum mehr vernünftig genutzt werden können. Gigantismus und Verschleuderung von Milliarden: Das werfen wir ja auch den Befürwortern von Stuttgart 21 vor, die immer wieder fast dummdreist etwas vom Kostendackel daherquatschen. Wider besseres Wissen? Das würd’ zeigen, wie Politik funktioniert. Oder aber, weil sie keine Ahnung haben und immer noch an den Weihnachtsmann glauben? Auch das würd’ zeigen, wie Politik funktioniert: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Kontext vom Wochenende untertreibt gewaltig – dort ist vom „10 000-Millionen-Euro-Projekt“ die Rede. Ich setz’ dagegen und leg noch 6 Milliarden drauf! Aber was tun gegen Ignoranz, Verweigerung, die Abstinenz gegenüber Argumenten? In Brasilien demonstrieren die Millionen auch gegen die „White Elephants“ genannten sportiven Investruinen – und damit direkt gegen die Fifa und deren Pflichtenhefte. Gegen Sepp Blatters engste Freunde + Geschäftspartner: die kriminellen Cartolas, Brasiliens Fußballfunktionärsclique, die seit Jahrzehnten den Lauf der Dinge bestimmt.

Und? Was hat das mit uns zu tun? Am Samstag demonstrierten auf dem Marktplatz rund 250 Brasilianerinnen und Brasilianer in Solidarität mit ihren Landsleuten zu Hause. Mit uns riefen sie: Wessen Straßen? Unsre Straßen! Wessen Welt? Unsre Welt. Wir verstehen uns.

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Eben legt die Alpinebau GmbH, tief verstrickt in S 21 und Neubaustrecke, die größte Pleite der österreichischen Nachkriegsgeschichte hin. Alpinebau ist Tochter der Alpine Holding, die ebenfalls vor der Pleite steht. Der ganze Laden gehört FCC, der drittgrößten der berüchtigten spanischen Spekulations-Immobilienfirmen – wir sehen, Stuttgart21 ist überall. FCC ist mit 7.2 Mrd € verschuldet und wackelt beträchtlich. Wer baut weiter? Porr, der zweite in S 21 engagierte österreichische Baumulti, hat abgewunken – „am Auslandsgeschäft von Alpine – etwa in Deutschland mit Großaufträgen für Stuttgart 21“ bestehe „kein Interesse“. Dort steckten „zu viele Altlasten“ (Der Standard am 20.6.2013). Bliebe noch Hochtief, der Konsortialführer, der eigentlich die Lücke schließen sollte. Viel Spaß! Hochtief zockt gerade nach allen Regeln der Kunst im Fall der Hamburger Elbphilharmonie den Steuerzahler ab, wo Olaf Scholz eben den Wowereit macht. Hochtief gehört mehrheitlich ACS, Branchenprimus im aufgeblähten spanischen Immobilienmarkt und ist auch hoch verschuldet (2 Mrd.€ Nettoverlust 2012),so Werner Sauerborn. Man sieht – eins hängt am anderen, und der letzte hängt sich auf.
Unsinnredner Ingenhoven, der Architekt der Macht, hält die Entwicklung der Kostenberechnungen für akzeptabel. Kein Wunder! Denn rein theoretisch gilt in der Branche: Je teurer ein Bau wird, umso höher ist das Honorar. Jajaja, nur rein theorerisch! Denn Stuttgart 21 wird ja vermutlich auch nur rein theoretisch gebaut. Unruhe ist die erste Aufgabe aller Radikalen, die die Verfassung der Freiheit lieben. Unruhe verlangt eine Allianz unabhängiger Geister, Vielfalt, Freude, Fantasie, Ausdauer. Auch deshalb sind wir hier. Ihr Peter Grohmann

Über Peter Grohmann

Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Breslauer Lerge, über Dresden auf d' Alb, dann runter nach Stuttgart: Schriftsetzer und Kabarettist, Autor und AnStifter gegen Obrigkeitsstaat und Dummdünkel. Mitgründer: Vom Club Voltaire übers undogmatische Sozialistische Zentrum, vom Theaterhaus zu den AnStiftern. Motto: Unruhe ist die erste Bürgerinnenpflicht. Was ärgert Grohmann? Alle, die den Arsch nicht hochkriegen, aber dauernd meckern. Und an was erfreut er sich? An Lebensfreude und Toleranz