BürgerInnenbrief 147

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

das durchgestrichene Ortsschild Stuttgart 21 ist zum bekanntesten Protestsymbol der Republik geworden! Bürgerinitiativen über im Lande haben die Symbolkraft unseres Zeichens erkannt und machen den Obrigkeiten einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Einer unsrer Freunde, der gelegentlich in Peking ist, wurde gar auf auf dem Uni-Campus nach dem Widerstand in Stuttgart gefragt. Ob Fluglärm, Donau-Ausbau, Naturschutz oder Banken 21 – das „System 21“ bewegt die Republik, ist in vielfacher Hinsicht zum Begriff geworden: Als Zeichen unsres Bür- gerprotests mit der längsten und intensivsten Mahnwache, die es in diesem Lande je gab, mit Dutzenden von Gruppen, Initiativen, Büchern, hunderttausenden von Flugblättern, 240 Fernsehbeiträgen, mit eigenständigen, großartgigen und selbstfinanzierten Aktionen aller Art, einer wahren Flut von Aufklärung und und und …

Und? Hat’s geholfen? Ja. Denn:

Zuerst: Wir sind immer noch da, jeden Montag. Jeder, der halbwegs regelmäßig an den Demos teilnimmt, weiß inzwischen in aller Regel viel, viel mehr, hat mehr Sachkenntnis und Kompetenz als die meisten Mandatsträger im Landtag, Bundestag oder Stadtrat. Es hat also geholfen – uns, Ihnen, Gründe und Hintergründe dieses Mammut-Immobilienprojekts zu begreifen – und zu begreifen, wer wie und wo Politik macht, auf wen Verlaß ist, wer abhängig, wer unabhängig ist. Der Erkenntnisgewinn ist gewaltig und er ist nachhaltig, der er bestimmt ja nun auch unser Verhalten im Alltag: Wo haben wir unsere Konten? Wo kaufen wir ein? Nehmen wir die Zeitungen noch ernst? Welche Alternativem gibt es in der Gesellschaft? In den letzten Jahren hat in Stuttgart und der Region die Geburtsstunde einer grandiosen, aufmerksamen und kritischen Bürgerschaft geschlagen: Das ist viel mehr, als man mit tausend Versuchen, neue Politikformen zu erfinden, zu entwickeln, je geschafft hat. Denn das, was hier entstanden ist, ist von unten gewachsen, ist zu einem vielseitig entwickelten Netz geworden – mit 1000 neuen
Freunden und 1000 neuen Möglichkeiten, sich einzumischen. Der größte Erfolg unserer zivilgesellschaftlichen Bewegung liegt darin, dass wir uns nun kein X mehr für ein U vormachen lassen, daß es uns gelungen ist, allen Widrigkeiten zum Trotz oben zu bleiben. Frust, Freunde, kann nicht ausbleiben! Denn da gabs zuviel an Heilerwartungen bei manchem, da war noch viel vom alten Glauben, daß es „die da oben“ schon richten würden.Ein Personalwechsel freilich richtet garnichts, das wissen wir jetzt. Denn es sind gewaltige Kräfte, gegen die wir da angetreten sind. Ich zitiere mal aus der Zeitschrift DER AKTIONÄR 26/13, S. 49 (dank Gerald vom vom Baume) zum Thema Neues Stuttgarter Europaviertel: „… Auf den ersten sieben Stockwerken (von insgesamt 18 Stockwerken) wird ein designorientiertes First-Class-Hotel entstehen (Pachtvertrag schon abgeschlossen!). Im Komplex: 50 exklusive Eigentumswohnungen und Business-Apartments (eine Penthouse-Wohnung im Cloud No. 7 wird über sechs Mio. Euro kosten). Die Bauleitung hat das Projektsteuerungs- +Managementbüro IKR München. „Geht alles glatt“, heißt es, wird im August 2013 begonnen. Wie hieß es da doch gleich vor den Abstimmungen? „…mitten in der Stuttgarter Innenstadt“ über 100 Hektar Fläche für Leben, Wohnen, Arbeiten und Wohlfühlen“ (zitiert nach OB Schuster, Brief an die Bürger, Nov 2011). „Man kann nur erahnen, wie gigantisch der Stadtblick auf Stuttgart aus dem 18. Stock“ sein wird, heißt es im Aktionär. Bürgerverarschung! Von einem ca. 60 m hohen Hochhaus im Europaviertel weiss man im Rathaus – nichts.

Liebe Bürgerinnen und Bürger, kann ja sein, dass es in Sachen Demokratie nicht ganz so einfach ist, weder bei uns selbst noch bei denen, die dann im Penthouse im 18. Stock wohnen sollen und sich gar köstlich über Bürgerbeteiligung und unsere Demokratie-Debatten amüsieren. Ich sag’ mal so: Wir sollten vor allem die im 18. Stock nicht aus den Augen lassen, und das „System 21“! Und ganz in diesem Sinne grüßt Ihr AnStifter Peter Grohmann

Über Peter Grohmann

Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Breslauer Lerge, über Dresden auf d' Alb, dann runter nach Stuttgart: Schriftsetzer und Kabarettist, Autor und AnStifter gegen Obrigkeitsstaat und Dummdünkel. Mitgründer: Vom Club Voltaire übers undogmatische Sozialistische Zentrum, vom Theaterhaus zu den AnStiftern. Motto: Unruhe ist die erste Bürgerinnenpflicht. Was ärgert Grohmann? Alle, die den Arsch nicht hochkriegen, aber dauernd meckern. Und an was erfreut er sich? An Lebensfreude und Toleranz