Bürgerbrief 76

Liebe Bürgerinnen und Bürger, Stuttgart21 steht vor der Tür. Die zerstörenden Vorbereitungen laufen. Es ist vielen Politikern und Planern immer noch nicht klar, welche verheerenden Folgen auf uns zukommen. Die Stadt wird einen radikalen Eingriff in ihre historische, kulturelle, räumliche und atmosphärische Substanz erfahren wie vor Jahr- zehnten durch die stadtzerstörenden Autobahnen, die brutal durch das gewachsene Gefüge der Stadt geschlagen wurden. Es kann keiner später sagen, niemand habe die desaströsen Folgen von S21 ungeschminkt beim Namen genannt. Es wird behauptet, die Mehrheit der Bürger wolle dies, durch die Volksabstimmung. Das ist nicht wahr.

  • Wollen wir denn, dass die Keimzelle der Stadt zwischen Schloß und Mittlerem Schloßgarten, zwischen Weinbergen und Uhlandshöhe, wo die Schichten unserer Geschichte übereinander liegen, zerstört wird?
  • Wollen wir, dass der Hauptbahnhof, eines der wenigen Kulturdenkmale und international anerkanntes Wahrzeichen, verstümmelt wird? Dass man den Bahnhof seiner Flügelbauten beraubt, ihn und wie eine vergrößerte S-Bahnstation in den Untergrund drückt?
  • Wollen wir, dass die großzügigen, königlichen Parkanlagen an der empfindlichsten Stelle quer zum Tal aufgeschlitzt, durch baumlose Mondlandschaft mit riesigen Glubschaugen und durch Fällung Hunderter alter historischer Bäume zerstört werden?
  • Wollen wir, dass die Ankunft in Stuttgart mit dem großartigen Blick auf Stadt, Park und Weinberge zugunsten einer kilometerlangen Tunnelfahrt im Keller aufgegeben wird?
  • Wollen wir, dass die Lebensadern durch massive Eingriffe in die Ökologie gefährdet werden, dass die Kaltluftströme ausbleiben, die Mineralquellen versiegen und die Grundwasserströme trockenfallen?
  • Wollen wir, dass eine trostlose „neue City“ unsere alte Innenstadt-City kalt stellt?
  • Wollen wir, dass durch ein Projekt längst überholten Fortschrittsglaubens verhindert wird, mit dem modernisierten Kopfbahnhof 21 eine zeitangemessene und finanziell weitaus günstigere Alternative zu erhalten? Diese Art von Fortschrittsehrgeiz bringt v.a. einen hohen Verlust an Lebensqualität!
  •  Wollen wir Kindern und Enkeln außer einer jahrzehntelangen hässlichen Baustelle dieses Zeugnis technokratischer Rücksichtslosigkeit und kultureller Barbarei hinterlassen?

Die Volksabstimmung, fälschlicherweise als großartiges Beispiel direkter Demokratie hochstilisiert, wurde durch massive Manipulationen und raffinierte Täuschungen zum Volksbetrug degradiert. 90 % der Bürgerinnen und Bürger konnten nicht wissen, dass sie mit ihrem Nein eine Zerstörungsorgie in Gang setzen würden. Wissentlich und willentlich wurden die Menschen im Unklaren gelassen. In der Hochglanzpropagande von S21 kam das Wort „Risiko“ gar nicht vor, stattdessen wurden astronomische Zahlen als Ausstiegskosten verbreitet und behauptet, wenn nicht gebaut würde, dann geschähe im Lande in den nächsten 20 Jahren überhaupt nichts mehr. Die Alternativen, die längst auf dem Tisch liegen, wurden wohlweislich totgeschwiegen. Diese Volksabstimmung war kein Sieg der Demokratie, sondern ein Sieg des Geldes, der Konzerne, Immobilienhaie, Investoren und eines Bahnchefs, geleitet vom Größenwahn alter Tage. Doch wem gehört die Stadt? Sie gehört den Menschen, die hier leben und arbeiten! Sie haben ältere Rechte als die wildgewordenen Profiteure alle Art, die nur von der Zerstörung leben können! Wir dürfen uns unsere Stadt, unsere Welt, unsren Lebensraum nicht rauben lassen, sondern sollten diese Werte gemeinsam verteidigen. Jetzt. Bürgerinnen und Bürger,
schaut auf Eure Stadt. Peter Grohmann* (*nach gemeinsamen Manuskript von Roland Ostertag uam)

Über Peter Grohmann

Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Breslauer Lerge, über Dresden auf d' Alb, dann runter nach Stuttgart: Schriftsetzer und Kabarettist, Autor und AnStifter gegen Obrigkeitsstaat und Dummdünkel. Mitgründer: Vom Club Voltaire übers undogmatische Sozialistische Zentrum, vom Theaterhaus zu den AnStiftern. Motto: Unruhe ist die erste Bürgerinnenpflicht. Was ärgert Grohmann? Alle, die den Arsch nicht hochkriegen, aber dauernd meckern. Und an was erfreut er sich? An Lebensfreude und Toleranz

2 Gedanken zu „Bürgerbrief 76

  1. Sehr geehrter Herr Grohmann,

    mit Erstaunen las ich Ihre Anzeige in der Stuttgarter Zeitung “Stuttgart 21 – Freibrief zur Stadtzerstörung”, denn der Text scheint v o r der Bürgerbefragung abgefasst worden zu sein. Alle Ihre Fragen “Wollen wir …” kann ich und sicher viele Mitmenschen mit “Ja” beantworten. und zwar mit einem ehrlichen “Ja”, also nicht mit dem Ja der Bürgerbefragung,
    Gebt endlich Ruhe und verzögert (und verteuert!) das Projekt nicht immer weiter!

    Hermann Kenntner
    Ludwigsburg

  2. Hallo Herr Kenntner,

    wer alle diese Fragen mit Ja beantworten kann, weiss nicht, wovon er redet und sollte sich unbedingt mit den Fakten des Projektes und nicht mit den Hochglanzprospekten der Bahn beschäftigen.
    All die Risiken, die miitlerweile aufgedeckt wurden und immer noch werden, wurden und werden von der Bahn nicht abgearbeitet, sondern einfach nur ignoriert.
    Wer all diese Fragen mit Ja beantworten kann, wohnt nicht in Stuttgart.

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