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Wir trauern?

von Hans Christ, Direktor des Württembergischen Kunstvereins

Wir trauern? Oder wo sollen wir zu erst anfangen zu trauern? Den Angehörigen der Attentate in Paris gehört ihre Trauer. Diese ist nicht teilbar, außer wir projizieren auf persönlich Betroffene ein System, das mit uns verbunden ist. Dies würde aber bedeuten, dass wir auch um die Arbeiterinnen in einer Textilfabrik in Bangladesch trauern, die für unseren Zugang zu günstigen Konsumgüter gestorben sind. Ist es wirklich so einfach das eine als Unfall und das andere als Terror zu titulieren? Grundlage dieser Toten ist dasselbe westliche „Freiheitsmotiv“. Wie verteilen wir unsere Trauer zwischen all diesen Toten staatlichen, terroristischen wie Gewinnmaximierung orientierten Terrors? Wie bewerten wir das Töten der einen oder der anderen? Gibt es überhaupt die Option sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen ohne selbst Teil totalitärer, verallgemeinerbarer Wirklichkeitsansprüche zu werden? Was ist der IS für ein Phänomen? Was bedeutet die Behauptung des Äquivalentes zu einem Staat? Was ereignete sich in dieser Rhetorik des „Kampfs der Kulturen“, der seit 2001 westliche „Friedensstaaten“ zu „Kriegsstaaten“ transformiert? Wie unterscheiden sich Staaten, die seit 1945 das Recht zu töten zum eigenen Vorteil externalisiert haben, von der temporären Konstruktion eines Kalifats, das in seinem Inneren wie Äußeren den Terror des Tötens zur Existenzgrundlage nimmt? Ist unsere Rechtsstaatlichkeit etwas, was an unseren Grenzen endet und deren Schutz jedes Verbrechen jenseits dieser Grenzen legitimiert? Der Schock der Attentate in Paris sitzt ähnlich wie 2001 auch deshalb so tief, weil wir wieder die falschen Antworten geben, die auf beiden Seiten denjenigen zu spielen werden, die von einer destabilisierten Welt Profit schlagen werden. Ein Bundespräsident, der von einer neuen Qualität des Krieges und nicht von Terrorismus spricht, ist ein gefährlicher Brandstifter (Der Terror aus individualisierten Einzelzellen in urbanen Strukturen ist auch nichts Neues (Mumbai schon vergessen?).).

Unsere Freiheit konnte nicht durch eine militärische Intervention am Hindukusch verteidigt werden. Es folgte nur, was sich schon längst in der Expansion deutscher Waffenexporte fest geschrieben war: Die Festlegung auf eben eine Logik – der militärischen Option. Selten war es so überdeutlich, dass der völkerrechtlich illegale Irak-Krieg eine militärisch, hoch gerüstet terroristische Formation wie den IS erzeugt hat. Der Souverän „Westen“ ist der militärisch-industrielle Geburtshelfer dieser Bestie.

Es war der durch und durch konservative US–Präsident David Dwight Eisenhower, der uns 1961 vor der Logik des militärisch-industriellen Komplex warnte, der heutzutage totale Realität ist: „Wir in den Institutionen der Regierung müssen uns vor unbefugtem Einfluss — beabsichtigt oder unbeabsichtigt — durch den militärisch-industriellen Komplex schützen. Das Potenzial für die katastrophale Zunahme fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin bestehen. Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet. Wir sollten nichts als gegeben hinnehmen.“

In Paris wurde mit Kalaschnikows getötet, im Irak plünderte der IS zunächst die Waffendepots der „neuen“ Irakischen Armee, die vollgestopft waren mit US-amerikanischen und britischen Waffen, demnächst plündern die Taliban die Depots der zurückgelassenen Waffen der Bundeswehr, und Großbritannien und Deutschland machen nach wie vor Waffendeals mit der Diktatur in Katar. Das Land gilt als Geldtransferhafen zur Unterstützung des IS. Wir hier im Westen hoffen natürlich, dass die Erfahrung einer Fußballweltmeisterschaft in diesem Land, einer unserer größten Exportschlager demokratischer Freiheit den Kleinstaat vom Übel des Totalitarismus befreien wird. Zum Schutz des Ereignisses werden wir parallel jene Sicherheitstechnik an den Staat verkaufen, die in der Folge wohl kaum dazu dienen wird, die Verhältnisse vor Ort zu demokratisieren.
In einem Gespräch mit einem togolesischen Künstler muslimischen Glaubens stellten wir gemeinsam fest: „Die Welt geht schlecht.“ Die Frage ist: Was ist zu tun?

Die Rückkehr der Deutungshoheit über den Polizeieinsatz gegen S21-Gegner

von Eberhard Frasch

Zur Zeit wird vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes im Schloßgarten vom 30.09.2010 verhandelt, bei dem mehrere hundert S21-Gegner verletzt wurden. Wer am 11.11.2015 der Verhandlung unter dem Vorsitz von Richter Nagel beigewohnt hat, konnte sich in der Sitzung eines Narrengerichts wähnen: die Vertreter der Regierung mussten Punkt für Punkt eine Predigt über sich ergehen lassen. Der Unterschied: Der Prediger war echt und die Regierungsvertreter traten keineswegs im Büßergewand auf – im Gegenteil, sie wichen widerwillig schrittweise zurück, maulten und erklärten zum Schluss, es gebe nichts zu bekennen oder nachzugeben, sie erwarteten ein Urteil.

Im Klartext: Die Verhandlung war eine Lehrstunde für die Landesregierung, die Justiz und für die Polizei in Sachen Grundrechte und Verfassung. Die wichtigste Aussagen: Der Versammlungscharakter der Menschenansammlung ist unabweisbar. Versammlungsrecht sperrt Polizeirecht. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs war rechtswidrig. Der Einsatz der Wasserwerfer war unverhältnismäßig.

Der Rechtsvertreter der Landesregierung im Rückzugsgefecht: Es sei schon bemerkenswert, wie locker das Gericht Rechtsverstöße wie die Erstürmung des Gitterwagens, Ellbogeneinsatz, Kastanienwürfe u.a. von Seiten der S21-Gegner bewerte. Darauf der Vorsitzende: Das seien einzelne Rechtsverstöße gewesen, zum Beispiel hätte die Polizei ohne weiteres eine Person, die aus einem Gitterwagenreifen die Luft raus lässt, hindern und festnehmen können. Das rechtfertige aber nicht, gegen eine grundgesetzlich geschützte Versammlung von 3000 Personen vorzugehen. Die Vertreter des Landes: Die Verletzten seien selbst in den Wasserwerferstrahl hineingelaufen. Der Vorsitzende: Wasserstöße auf eine Menschenmenge abzugeben, sei prinzipiell nicht zulässig – daher stelle sich die Frage nach dem Verhalten der Demonstranten nicht.

In einer Pressemitteilung des Gerichts ist zu lesen: „Die Kläger, die fast alle bei dem Polizeieinsatz verletzt wurden, möchten im Wesentlichen vom Gericht festgestellt haben, dass die Aufforderung der Polizei, bestimmte Bereiche des Schlossgartens zu verlassen sowie die Androhung und Anwendung des unmittelbaren Zwangs durch Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstock und Pfefferspray rechtswidrig waren. Zur Begründung tragen sie im Wesentlichen vor, sie seien Teilnehmer einer friedlichen Versammlung gewesen. Der durch die Polizeibeamten ausgesprochene Platzverweis sei rechtswidrig gewesen, da die Auflösung der Versammlung nicht wirksam angeordnet worden sei. Schon aus diesem Grund seien die Androhung und Anwendung der Zwangsmittel unzulässig gewesen. Im Übrigen sei der Einsatz von Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray unverhältnismäßig gewesen. Insbesondere sei das gezielte Ausrichten des Wasserstrahls der Wasserwerfer auf einzelne Personen angesichts der fehlenden Gefahrenlage völlig überzogen gewesen.  Dem ist das beklagte Land in allen Punkten entgegengetreten.“

Bei dieser Haltung blieben die Vertreter des Landes im Gerichtssaal. Sie löste auch auf der Richterbank größtes Erstaunen aus. Richter Nagel verwies auf seinen Vorgänger, der schon gut vier Jahre zuvor Anfragen an die neue Landesregierung gerichtet habe, ob nicht – angesichts des Wechsels zu Regierenden, die als Oppositionelle die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes bestritten hätten – dem Anliegen der Kläger abgeholfen werden könne. Fehlanzeige. Das bringt sogar die bekennende Polizeifreundin Christine Bilger in der Stuttgarter Zeitung zu der Kommentarüberschrift: „Versöhnende Worte fehlen“.

Das Wichtigste – neben der unmittelbaren Genugtuung für die Verletzten: Die Deutungshoheit über das Geschehen wird den Bürgerinnen und Bürgern zurückgegeben. Bisher wurde sie etwa im Wasserwerferprozess gegen die verantwortlichen Polizisten von der vorsitzenden Richterin Haußmann ausgeübt: „Es ist davon auszugehen, dass der Polizeieinsatz rechtmäßig war. “ Etwa von Oberstaatsanwalt Häußler, der in jenem Prozess als Zeuge behauptete, die Abgabe von Wasserstößen gegen Menschen unter einer Plane sei „gegen eine Sache gerichtet“ gewesen. Etwa von Polizeiinspekteur Schneider, der den Bericht des Innenministeriums an den Landtag verantwortete (1.7.2011): „Bei all dem darf aber nicht verkannt werden, dass die primäre Ursache für den Einsatzverlauf am 30. September 2010 durch das Verhalten der S21-Gegner gesetzt wurde.“ oder „Der Einsatz der Wasserwerfer erfolgte am 30. September 2010 grundsätzlich regelkonform.“ Dem ist das Gericht in allen Punkten entgegengetreten.

Wir erwarten mit Hoffnung und Vorfreude das Urteil – eine Woche nach dem Elftenelften – am Mittwoch, 18.11.2015, 10 Uhr im Verwaltungsgericht Stuttgart, Augustenstr. 5.

Jürgen Todenhöfer
Ein Brief im Zorn

„Sehr geehrte Präsidenten und Regierungschefs! Ihr habt mit eurer jahrzehntelangen Kriegs- und Ausbeutungspolitik Millionen Menschen im Mittleren Osten und in Afrika ins Elend gestoßen. Wegen euch flüchten weltweit die Menschen. Jeder 3. Flüchtling in Deutschland stammt aus Syrien, Irak und Afghanistan. Aus Afrika kommt jeder 5. Flüchtling.

Eure Kriege sind auch Ursache des weltweiten Terrorismus. Statt ein paar 100 internationale Terroristen wie vor 15 Jahren haben wir jetzt über 100.000. Wie ein Bumerang schlägt eure zynische Rücksichtslosigkeit jetzt auf uns zurück.

Wie üblich denkt ihr nicht daran, eure Politik wirklich zu ändern. Ihr kuriert nur an den Symptomen herum. Die Sicherheitslage wird dadurch jeden Tag gefährlicher und chaotischer. Immer neue Kriege, Terrorwellen und Flüchtlingskatastrophen werden die Zukunft unseres Planeten bestimmen.

Auch an Europas Türen wird der Krieg eines Tages wieder klopfen. Jeder Geschäftsmann, der so handeln würde, wäre längst gefeuert oder säße im Gefängnis. Ihr seid totale Versager.

Die Völker des Mittleren Ostens und Afrikas, deren Länder ihr zerstört und ausgeplündert habt sowie die Menschen Europas, die jetzt unzählige verzweifelte Flüchtlinge aufnehmen, zahlen für eure Politik einen hohen Preis. Ihr aber wascht eure Hände in Unschuld. Ihr gehört vor den Internationalen Strafgerichtshof. Und jeder eurer politischen Mitläufer müsste eigentlich den Unterhalt von mindestens 100 Flüchtlingsfamilien finanzieren.

Im Grunde müssten sich die Menschen dieser Welt jetzt erheben und euch Kriegstreibern und Ausbeutern Widerstand leisten. Wie einst Gandhi- gewaltlos, in ‚zivilem Ungehorsam‘. Wir müssten neue Bewegungen und Parteien gründen. Bewegungen für Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Die Kriege in anderen Ländern genauso unter Strafe stellen, wie Mord und Totschlag im eigenen Land. Und die euch, die Verantwortlichen für Krieg und Ausbeutung, für immer zum Teufel jagen. Es reicht! Haut ab! Die Welt wäre ohne euch viel schöner.“

Jürgen Todenhöfer auf Facebook

Wo herrschen Demokraten? oder Gegen deutsche Erpresser

Die Demokratie in Athen
Wird in Deutschland nicht gern gesehen
Gegen deutsche Erpresser
Wehren Griechen sich besser
Wann wird das in Deutschland geschehen? mehr…

Die Lüge über den „Asylbetrug“

»Der Asylantrag einer jüdischen Familie aus Nazi-Deutschland hätte vor 1938 gestellt im heutigen Deutschland keine Chance auf Anerkennung«, so Rechtsanwalt Ullrich Hahn, Mitglied der Rechtsberaterkonferenz des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Deutschland. Das Grundrecht »Politisch Verfolgte genießen Asyl« wurde seit 1993 erheblich eingeschränkt und diese Einschränkungen von Behörden und der Verwaltungsjustiz systematisch zu Ungunsten von Asylsuchenden ausgelegt. Die Aussage des in Asylverfahren und der Flüchtlingsberatung erfahrenen Juristen ist ernüchternd und zeigt wie sehr das einstige Grundrecht auf Asyl mittlerweile ausgeweidet wurde. mehr…

Wolf Wetzel
Der Tod eines wichtigen Zeugen und ein Zeuge, den man stumm stellte – im NSU-VS-Komplex Baden-Württemberg

Wolf Wetzel, Autor des Buches »Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf?«, erschienen 2013 im Unrast-Verlag, hat uns folgenden Text freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Prüfen können wir diesen leider nicht.



Zur Zeit tagt im Stuttgarter Landtag der Untersuchungsausschuss »Rechtsterrorismus/NSU BW« zur Aufarbeitung der Kontakte und Aktivitäten des »Nationalsozialistischen Untergrunds/NSU« in Baden-Württemberg und der Todesumstände der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn erschossen wurde. Sie gilt als zehntes und letztes Opfer des NSU – wenn man den Tod des Zeugen Florian Heilig als Selbstmord verbucht, um den es in diesem Beitrag geht. Den Ermittlern zufolge soll sich Florian Heilig aus Liebeskummer mit Benzin übergossen und dann selbst verbrannt haben. An dem Tag, an dem er Aussagen aus dem Jahr 2011 widerholen bzw. präzsieren wollte.

Florian Heilig war bis 2011 in der Neonazi-Szene rund um Heilbronn aktiv. In dieser Zeit hatte er u.a. auch Beate Zschäpe getroffen. Mitte 2011 machte er Aussagen zu dem Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007 und nannte dabei Namen und Verbindungen zu weiteren neonazistischen Gruppierungen. Diese stehen in völligem Widerspruch zu den Überzeugungen der Generalstaatsanschwaltschaft, sie passen überhaupt nicht in die Anklageschrift: Dort wird die Behauptung aufgestellt, dass der Mordanschlag auf die beiden Polizisten in Heilbronn zufällig und symbolisch war und dass es ›erwiesen‹ sei, dass die beiden NSU-Mitglieder Mundlos und Böhnhard die Tat alleine ausgeführt hätten.
Florian Heilig wurde mehrmals von seinen ehemaligen ›Kameraden‹ bedroht. Immer wieder artikulierte er laut, dass er um sein Leben fürchtete. Er kam ins Aussteigerprogramm des LKA Stuttgart (BIG Rex), beschützt hatte er sich dennoch nie gefühlt. Trotzdem war er bereit, an jenem Montag, den 16. September 2013 seine Aussagen aus dem Jahr 2011 zu wiederholen bzw. zu präzisieren.

An die Selbstmord-These glauben vor allem Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Eltern und die Schwester widersprachen dieser Behauptung von Anfang an – zuletzt als Zeugen im parlamentarischen Untersuchungsausschuss/PUA .Sie sind mit diesen Zweifeln nicht allein.

Nun kommt Beobachtungen eines Fahrlehrers hinzu, der sich als Zeuge der Polizei zur Verfügung gestellt hatte, aber nie gehört, nie befragt wurde. Im Gegenteil. Selbst die Tatsache, dass es ihn gibt, wurde in den Ermittlungsakten verschwiegen. Ein glücklicher Umstand ist es zu verdanken, dass sich dieser Zeuge beim Autor dieses Beitrages meldete und seine Beobachtungen vom 16. September 2013 auf dem Cannstatter Wasen wiedergab – kurz bevor das Auto brannte, in dem Florian Heilig auf grausame Weise umgekommen war.

Was der Zeuge am Todestag von Florian Heilig gesehen hat, schildert der Fahrlehrer gegenüber dem Autor wie folgt:
Jürgen M. (Name wurde geändert) traf sich am 16. Spetember 2013 um acht Uhr morgens auf dem Canstatter Wasen in Stuttgart mit einem Fahrschüler, um ihn auf eine Motorradprüfung vorzubereiten. Für Unterrichtstunden auf diesem Gelände hatte die Fahrschule eine Sondergenehmigung. Da bereits mit Aufbauten für das bevorstehende Volksfest begonnen worden war, verlegte M. den Fahrunterricht in den hinteren, südlichen Bereich. Gegen 8:30 Uhr fiel ihm ein allein stehender Peugeot auf, der ungewöhnlich abgestellt war. Auf der Fahrerseite sah er eine Person sitzen. Hinter dem geparkten Auto bemerkte er einen kräftig gebauten Mann, der eine Zigarette rauchte. Sein Alter schätzt er grob auf 30 bis 50 Jahre. Zu Beginn seiner zweiten Fahrstunde an diesem Tag kommt er wieder an derselben Stelle vorbei. Er erschrickt, denn nun sieht er dasselbe Auto – ausgebrannt. Die Feuerwehr hat den Brand bereits gelöscht. Als er sich dem Auto nähert, kann er darin grob die Person in derselben Position wiedererkennen. Der 21jährige Florian Heilig ist tot. 
Der Fahrlehrer geht zur Absperrung und teilt zuerst einem Polizisten, dann einer Polizistin mit, dass er vor dem Brand den rauchenden Mann in unmittelbarer Nähe des geparkten Wagens gesehen hat. Die Beamtin notiert seinen Namen und seine Telefonnummer, er nimmt seine Arbeit wieder auf. Da wenig später von einem tragischen Selbstmord die Rede ist, scheint für ihn die Angelegenheit erledigt – bis in seinem Bekanntenkreis Medienberichte über die Ungereimtheiten des angeblichen Selbstmordes Aufmerksamkeit erregen. 


Zwar muss es keinen Zusammenhang zwischen dem rauchenden Mann und dem wenig später brennenden Auto (keinen Zusammenhang) geben. Wenn aber die Polizei dem Grundsatz folgt, in alle Richtungen zu ermitteln, dann ist diese Beobachtung äußerst wichtig, um herauszubekommen, wer dieser Mann ist und ob es einen Zusammenhang zu dem geparkten Auto und dem Insassen gibt. Der Fahrlehrer wurde jedoch nie befragt. Die Ermittlungsakten suggerieren sogar das Gegenteil: In der Strafanzeige der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 10.2.2014 findet sich der wahrheitswidrige Satz: »Ein Hinweis auf eine weitere Person liegt hingegen nicht vor.«

Es gibt noch weitere Hinweise dafür, dass die Selbstmordthese die unwahrscheinlichste ist. Denn ein weiterer unterschlagener Umstand spricht dafür,dass Florian Heilig auf dem Cannstatter Wasen vor seinem Tod nicht alleine war: Um ein Auto zu fahren und abzustellen, braucht man einen Autoschlüssel. Die Ermittler stellten jedoch keinen Autoschlüssel sicher. Weder befand er sich im Zündschloss, im Wageninneren, noch in der Nähe des Tatortes. Auch vom Schlüsselbund Heiligs fehlt jede Spur. Ermittler, die ›Fremdeinwirkung‹ ausschließen, müssten dafür ein plausible Erklärung haben. Stattdessen schweigen sie sich über diesen Umstand aus. Was die Polizei an Gegenständen von Florian Heilig sichergestellt hatte, findet sich in der Empfangsbescheinigung aufgelistet, ausgestellt auf den 24. September 2013,: »Geldbörse, 36,07 Euro, 5 Visitenkarten, Scool-Card, 3 Gesundheits-/Versicherungskarten, Führerschein, 9 Quittungen, Arztbericht, Schreiben LRA Heilbronn, BPA, je ein Paar Turnschuhe/Socken.«

Wenn Zeugen, die die Suizid-Annahme gefährden könnten, nicht gehört werden, wenn Umständen, die gegen ein Suizid-Ereignis sprechen, nicht nachgegangen wird, dann ist die Annahme berechtigt, dass das, was der Abschlussbericht des Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses festgestellt hat auch für Baden-Württemberg gilt: »Freiwillige Erkenntisisolation«. Auch vom Verdacht gezielter Sabotage war in dem Bericht die Rede.

Man kann davon ausgehen, dass Polizei und Staatsanwaltschaft nicht willkürlich Ermittlungen einseitig führen. Sie wußten sehr schnell, welche politische Brisanz der Tod eines Zeugen hat, der seine Aussagen zu dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007 wiederholen wollte. Einem möglichen Mordgeschehen nachzugehen, würde die Tür zu folgenden Fragen aufstoßen: Wer wußte von der bevorstehenden Vernehmung? Mit wem hatte Florian Heilig bis in die Morgenstunden hinein telefonischen Kontakt? Wie kamen Neonazis in den Besitz der ständig wechselnden Telefonnummer von Florian Heilig? Warum wurde nie (offiziell) eine Auswertung der Telefon- und Verbindungsdaten vorgenommen?

Wenn sich nichts von allem in den Ermittlungsakten findet, darf man den Verdacht äußern, dass all diese selbstverständlichen Ermittlungschritte einen Suizid nicht stützen würden.

Entsetzen und Enttäuschung in Sant‘Anna di Stazzema

Dieser Artikel von Jürgen Weber ist soeben in der „Antifa – Magazin der VVN-BdA für antifaschistische Politik und Kultur“ erschienen:

Entsetzen und Enttäuschung in Sant‘Anna di Stazzema

Noch herrscht Ratlosigkeit und Ohnmacht bei den überlebenden Opfern und italienischen Ermittlern über die Einstellung der Verfahren in Deutschland gegen die Mörder des Massakers von Sant‘Anna di Stazzema. Nur kurz zeigt uns Enrico Pieri sein vom deutschen Botschafter in Rom überreichtes Bundesverdienstkreuz, dann legt er es zur Seite und es fällt ihm sichtlich schwer über die schallende Ohrfeige aus Stuttgart zu sprechen.

Zehn deutsche Kriegsverbrecher wurden 2005 vom Militärgericht in La Spezia in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt. Allesamt Befehlshaber der 16. SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Division der Waffen-SS, welche für eines der abscheulichsten Massaker der deutschen Besatzung in Italien verantwortlich sind. Die Dorfbevölkerung von Sant‘Anna di Stazzema, ganz im Nordwesten der Toskana an den Ausläufern der apuanischen Alpen zwischen Carrara und Lucca gelegen, wurden in den Morgenstunden des 12. August 1944 systematisch ermordet, die Häuser niedergebrannt und das Vieh umgebracht. Nichts außer verbrannter Erde sollten Partisaninnen und Partisanen hier vorfinden. Deutschland lieferte die in Italien durch alle Instanzen verurteilten Mörder nicht aus, sondern wollte ihnen vor einem deutschen Gericht selbst den Prozess machen. Dazu wird es nun wohl nicht mehr kommen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat unter Oberstaatsanwalt Bernhard Häussler am 1. Oktober 2012 diese Akten nach über 10 Jahren Ermittlungszeit wieder geschlossen und damit für tiefe Enttäuschung, Entsetzen und Unverständnis in S. Anna und ganz Italien gesorgt. mehr…