Deutschland erwache!

„Wir sehen. Wir hören. Wir fühlen den kommenden Krach. Und wenn Deutschland schläft: Wir sind wach!“

behauptete Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky in der Arbeiter-Illustrierten Zeitung 1930. Es half nichts. Deutschland hat es verschlafen, und Kurt hatte was übersehen.

Heute ist natürlich alles viel besser, was das Erwachen angeht. Wir haben zwar den Krieg, die Ostgebiete und die Kolonien verloren, aber eine ausgewachsene Demokratie geschenkt bekommen. Zugegeben: Für umme. Und weil wir partout nicht befreit werden wollten, mussten wir halt besiegt werden. Das wirkt bis heute nach.

1929, vor 90 Jahren hatte die NSDAP 12 Mandate im Reichstag für 2,6 % der Stimmen. 1930 waren es 18 % und im Juli 1932 verschlimmerte sie sich sogar auf 37,3 % und 230 Mandate. Auch damals ging bei den freien Wahlen manches schneller, als die Polizei erlaubte. Inzwischen, also heute, wird von der einen Seite die rot-grün versiffte Republik auf Kimme und Korn genommen, während die andere den Traum weiter träumt, eine andere, bessere Republik falle ihr eines Tages in den Schoss. Wahr ist: Der Schoss ist fruchtbar noch, und wenn was fällt, dann auf die andere Seite.

Eben hat im einst von Franco & Friends gepeinigten Spanien, zu dem wir zeitlebens beste Beziehungen hatten, die fascho-nahe VOX-Partei aus dem Stand 10 % der Stimmen erhalten. Die helfen den Konservativen gern von jetzt auf nachher in die Regierung, fast überall und früher oder später.

Dem alten Ebert sei’s gedankt: Seine Stiftung der bürgerlich-linken Mitte hat eben herausgefunden, dass die gute Gesellschaft feindseliger wird und an den rechten Rand rückt. Bei aller Liebe zum Grundgesetz sagt man sich: Demokratie ist schon OK, aber leider nicht für alle gedacht. Man hat die Vorurteile damals parat: Sinti und Roma taugen nicht viel, und Deutschland sollte wieder soviel Macht und Geltung haben, wie ihm zusteht. Zugegeben, so denkt nur ein Drittel der Befragten. Der Rest ist ein demokratischer Wackelpudding, weltoffen für Zweckbündnisse, und komme, was wolle: Der 1. Mai ist der Feiertag der internationalen Arbeiterklasse.

Über Peter Grohmann

Peter Grohmann, Jahrgang 1937, Breslauer Lerge, über Dresden auf d' Alb, dann runter nach Stuttgart: Schriftsetzer und Kabarettist, Autor und AnStifter gegen Obrigkeitsstaat und Dummdünkel. Mitgründer: Vom Club Voltaire übers undogmatische Sozialistische Zentrum, vom Theaterhaus zu den AnStiftern. Motto: Unruhe ist die erste Bürgerinnenpflicht. Was ärgert Grohmann? Alle, die den Arsch nicht hochkriegen, aber dauernd meckern. Und an was erfreut er sich? An Lebensfreude und Toleranz