„Wir sind am Ende unserer Kräfte, nicht aber unserer Flucht“

Die zwei- bis dreihundert syrischen Flüchtlinge, die seit dem 19. November 2014 am Rande des Syntagma-Platzes im Zentrum Athens gegenüber dem griechischen Parlamentsgebäude auf Decken sitzen oder liegen begreifen sich immer noch auf der Flucht. Sie wollen mit ihrem Hungerstreik Papiere um weiterreisen zu können und für den Übergang ein Dach über dem Kopf sowie eine soziale und medizinische Grundversorgung. Die Europäische Union zwingt ihnen mit Griechenland ein Fluchtziel auf, in das sie nie wollten und das nicht bereit oder in der Lage ist, ihnen ein Obdach und das Existenzminimum zu garantieren.

Bassem ist aus Damaskus geflohen. Er zeigt tiefe Narben an Finger und Kopf. Einmal sei er ohne Papiere aus dem Haus gegangen und von der Polizei auf der Straße aufgegriffen worden. Eine Woche lang saß er im Gefängnis bis seine Identität geklärt war. Beim Verhör wurde er geschlagen und mit einem Schneidewerkzeug wurde ihm eine Fingerkuppe gespalten. Nach vier Jahren Krieg hat er seine bisherige Existenz hinter sich gelassen. Nun lebt er seit sechs Wochen als Obdachloser in den Parks und Straßen Athens wie Hunderte andere syrische Flüchtlinge. Darunter auch zahlreiche Familien mit kleinen Kindern. Griechenland und die Europäische Union verstoßen damit massiv gegen die UN-Kinderrechtskonvention und die allgemeinen Menschenrechte.

Ohne jede Unterstützung – ohne Perspektive

Seit 19. November harren die syrischen Flüchtlinge am vielbelebten „Platz der Verfassung“ aus. Heute, am 2. Dezember 2014, hungern über 50 der Flüchtlinge bereits den neunten Tag, gut zwei Dutzend wurden mittlerweile nach Schwächeanfällen in Krankenhäuser gebracht. Die behandelnden Krankenhäuser haben teilweise einen Eigenanteil von 100,- Euro von den Eingelieferten gefordert. Eine medizinische Grundversorgung gibt es in Griechenland für Flüchtlinge nicht. Ebenso wenig eine Unterbringung oder Sozialleistungen. Die meisten der Flüchtlinge hier sind übers Meer geflohen und auf einer der griechischen Inseln gestrandet. Dort werden sie registriert und bekommen etwas zu trinken und zu essen. Danach werden sie auf die Straße geschickt. Ein Asylantrag wird nicht entgegen genommen. Männer, Frauen und Kinder jeden Alters in die Obdachlosigkeit entlassen: „Willkommen in der Europäischen Union der Menschenrechte“, erklärt mir ein junger Syrer sarkastisch.

Erst vergangene Woche wurde vor der Küste Kretas ein Frachter mit über 500 syrischen Flüchtlingen an Bord von den Behörden aufgefunden. Einige dieser Flüchtlinge haben sich nun den Protesten am Syntagma-Platz angeschlossen. Wie die linksliberale griechische „Zeitung der Redakteure“ aktuell berichtet, werden von den Polizeibehörden auf Kreta nun über 300 Flüchtlinge festgehalten, um die Gruppe der Hungerstreikenden in Athen nicht noch größer werden zu lassen.
Die Behörden und die Politik verhalten sich gegenüber den Hungerstreikenden wie bei der Grundversorgung aller Flüchtlinge: „Sie tun so, als würde es uns überhaupt nicht geben“, erklärt Bassem. Bislang gab es keine direkten Gespräche zwischen Streikenden und der griechischen Regierung oder der Kommune. Einzig ein Informationsblatt auf Griechisch und Englisch wurde vom Innenministerium an die Flüchtlinge verteilt. Das Ministerium erklärt auf Anfrage griechischer Journalisten, sie hätte keine Möglichkeit gefunden, die Informationsschrift auch auf Arabisch zu übersetzen. Darin ist zu lesen, dass die Flüchtlinge einen Asylantrag stellen sollen, mehr könne der griechische Staat nicht tun. Sie könnten arbeiten, aber Griechenland hätte selbst genügend Arbeitslose und sie würden keine Arbeit finden, so das Ministerium.

Ein Abgeordneter der neofaschistischen Partei „Goldene Morgenröte“ hat inzwischen gefordert, den Platz der Verfassung durch die Polizei säubern zu lassen, da die Flüchtlinge dort das Weihnachtsgeschäft stören würden. Acht von 16 Abgeordneten der „Goldenen Morgenröte“ sitzen derzeit wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ sowie den Morden an einem linken Musiker und an Migranten im Gefängnis. Die Partei wurde im Mai trotzdem mit über 9 Prozent der griechischen Wählerstimmen mit drei Abgeordneten ins Europäische Parlament gewählt.
Doch die syrischen Flüchtlinge berichten auch von einem anderen Gesicht Griechenlands. Viele Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben in den letzten Tagen Decken und Kleidung vorbeigebracht. Einige der Nächte in Athen waren bereits nasskalt bei Regen und deutlich unter 10 Grad. Auch Medikamente wurden vorbei gebracht und selbst für die ambulante Versorgung der Hungerstreikenden in den Krankenhäusern wurde Geld gespendet. Geldspenden, die nicht unmittelbar einem benötigten Zweck gewidmet sind, lehnen die Flüchtlinge hingegen ab.

Schwere Vorwürfe gegen Schlepper und Frontex

Die Menschen bräuchten Ruhe und eine schnelle Lösung. Eine legale Lösung zur Weiterreise, fleht Bassem. Es spielten sich furchtbare Szenen an der Grenze zu Mazedonien ab. Er selbst sei dort gewesen, aber von den Grenzbehörden wieder aufgegriffen worden. Es hätte Tote im Gebirge zwischen Griechenland und Mazedonien gegeben, weil Schlepper Flüchtlinge ausgeraubt und dann sich selbst überlassen hätten. Eine Frau, die nun unter den Flüchtlingen am Syntagma-Platz ist, sei vergewaltigt worden.
Alle seien erschöpft von der langen Zeit des Krieges und der Flucht. Die Flüchtlinge erheben auch schwere Vorwürfe gegen die Grenzsicherungsagentur der Europäischen Union „Frontex“ und gegen dort eingesetzte deutsche Grenzbeamte. Deutsche Beamte unterstützen die Grenzsicherung zwischen Griechenland und der Türkei. Flüchtlinge seien geschlagen worden. Ihre persönliche Habe, Geld und Handys von den Beamten über Bord geworfen worden. Unter den syrischen Flüchtlingen am Syntagma-Platz sind Handy-Videos im Umlauf, die belegen sollen, wie auf einem Schiff der Frontex ein Flüchtling ohne Schwimmweste wieder ins Meer geworfen und erneut „gerettet“ wurde. Wenn dies zutrifft handelt es sich um Folter und strafrechtlich um schwere Verbrechen in Dienst und Amt.

Fluchtziele nicht erreicht

Viele der syrischen Flüchtlinge haben Verwandte in Ländern der Europäischen Union und wollen weiter nach Schweden, Großbritannien oder Deutschland. Sie betrachten sich immer noch auf der Flucht und wollen nicht in Griechenland bleiben. Die Lage spitzt sich für sie zu, weil alles Geld für Schlepper oder den Lebensunterhalt auf der Flucht verbraucht oder geraubt wurde. Sie sehen ihren letzten Ausweg aus Mittel- und Obdachlosigkeit in Griechenland im Hungerstreik. „Wir habe gar keine Alternative als auszureisen“, so einer der Flüchtlinge, „sollen sich unsere Frauen prostituieren oder wir kriminell werden? Wie stellen sich die Verantwortlichen in der Europäischen Union unser Leben hier vor?“, fährt er fort. Lieber würde er beim Hungerstreik sterben. „Wir sind am Ende unserer Kräfte, nicht aber unserer Flucht“, ergänzt Bassem. „Wir brauchen Hilfe und zwar schnell. Bitte“.

Athen, 2.12.2014

 

Ein Beitrag aus Athen ist auch auf Radio Dryeckland erschienen:

https://rdl.de/beitrag/syrische-fl-chtlinge-im-hungerstreik-misshandelt-von-deutschen-polizisten-mittellos

 

Hinweisen möchte ich auch auf Aktionen am kommenden Samstag, Montag und Dienstagmorgen in Freiburg und am Baden-Airpark gegen Sammelabschiebungen der grün-roten Landesregierung nach Serbien.

http://www.aktionbleiberecht.de/blog/wp-content/uploads/2014/11/Demo-6.-Dez..pdf

Crosspost von www.esPRESSo-Blog.eu, dem Blog des AnStifters Jürgen Weber.

Über Fritz Mielert

Fritz Mielert, Jahrgang 1979, arbeitete von 2013 bis 2017 als Geschäftsführer beim Bürgerprojekt Die AnStifter in Stuttgart. Davor betreute er ab 2011 bei Campact politische Kampagnen im Spektrum zwischen Energiewende und Vorratsdatenspeicherung, engagierte sich in der AG Antragsbearbeitung der Bewegungsstiftung, baute ab 2010 maßgeblich die Parkschützer als eine der wichtigsten Gruppierung im Protest gegen Stuttgart 21 auf und war ab 1996 mehrere Jahre ehrenamtlich bei Greenpeace aktiv.