Nachdenktag bei AnStifters

Es ist der letzte Januar-Samstag 2019, als sich über 50 Anstifter-Aktive im Clara-Zetkin-Haus der Naturfreunde in Sillenbbuch treffen.
Draußen Schnee, drinnen heiße Köpfe vom Nachdenken darüber, wie die Welt in ein paar Jahren oder auch erst in Generationen aussehen könnte.

Gerd Rathgeb

Zentraler Veranstaltungspunkt des Vormittages ist der Impulsvortrag von Gerd Rathgeb, der sich mit unserer „imperialen Lebensweise“ befasst und hinter deren schöne Fassade blickt (den Wortlaut des Vortrags findet ihr im Anschluss an den Blogbeitrag).

Nach einer deftigen Erbsensuppe aus der Waldheimküche – wer nachdenkt braucht auch Nervennahrung – geht die Arbeit in kleineren Gruppen zu spezifischeren Inhalten weiter.

Die AnStifter*Innen einigen sich auf vier Arbeitsgruppen zu folgenden Themen:
AG 1: Imperiale Lebensweise – Menschenrechte – Aktionen
AG 2: Demokratie und Schule
AG 3: Populismus – Parteien – Perspektiven gegen Rechts
AG 4: Strukturen – Beteiligungen in Gremien

Peter Grohmann

Der Tenor ist eindeutig: Menschenrechte müssen vor Unternehmensrechten stehen; es ist notwendig, Bündnisse einzugehen und Netze zu knüpfen; demokratische Rechte müssen vermittelt und genutzt werden; lasst uns Sand im Getriebe der Mächtigen sein! Viel Mut und gute Ideen für die weitere Arbeit, die verwirklicht werden wollen.

Das letzte Wort hat Peter Grohmann. Gemeinsam mit den Teilnehmer*Innen zieht er eine positive Bilanz des Tages und macht klar, dass wir AnStifter und AnStifterinnen auch in der Zukunft unsere ganz konkreten, fassbaren Beiträge für eine bessere Welt leisten werden. Vormerken könnt Ihr Euch schon mal den Demokratiekongress am 13. April im Literaturhaus.
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Vortrag von Gerd Rathgeb

U. Brand / M. Wissen: Imperiale Lebensweise
Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut

Es ist ein charakteristisches Merkmal von Imperien, weite Teile des Planeten zu beeinflussen, ohne dass sich die Bevölkerung des Imperiums dieses Einflusses bewusst wäre – oder dass sie auch nur von der Existenz vieler der betroffenen Orte wüsste.“ (Rob Nixon)

Die internationale Arbeitsteilung besteht darin, dass einige Länder sich im Gewinnen und andere im Verlieren spezialisieren.“ (Eduardo Galeano)

Kein Gemeinsames ist möglich, sofern wir uns nicht weigern, unser Leben und unsere Reproduktion auf dem Leid anderer zu gründen und uns als von ihnen getrennt wahrzunehmen.“ (Silvia Federici – emeritierte Professorin für politische Philosophie)

Die EU-Politik verteidigt einen Wohlstand, der auf Kosten anderer entsteht. Sie ist die logische Konsequenz einer Lebensweise, die darauf beruht, sich weltweit Natur und Arbeitskraft zunutze zu machen und die dabei anfallenden sozialen und ökologischen Kosten zu externalisieren.

– CO2 wird bei der Herstellung von Konsumgütern für den globalen Norden hier emittiert – und von den Ökosystemen des Südens absorbiert – bzw. in der Atmosphäre konzentriert.

– Metallische Rohstoffe aus dem globalen Süden sind unabdingbare Voraussetzung von Digitalisierung und Industrie 4.0 im globalen Norden. (Firma ACI aus Zimmern bei Rottweil – Lithium von Salzsee in Bolivien, Coltan vom Kongo, Kupfer von Sambia u. Peru…..)

– Es sind Arbeitskräfte im globalen Süden, die bei der Extraktion von Mineralien und Metallen, bei der Wiederverwertung unseres Elektroschrotts oder beim Schuften in pestizidverseuchten Plantagen, die im globalen Norden verzehrten „Südfrüchte“ hervorbringen und dabei ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren. (Film: Europas dreckige Ernte)

– 5,5 Millionen Hektar Land nimmt Deutschland im Ausland in Anspruch (fast ein Drittel der genutzten Fläche in Deutschland) um seinen Bedarf an Agrarprodukten zu decken – Futtermittel aus Südamerika u. Palmöl aus Südostasien. Land, das den einen weggenommen wird um den Überkonsum der anderen zu ermöglichen.

– einfache Tätigkeiten werden in andere Länder verlagert und dort weit unter unserem Mindestlohn bezahlt. (Kleider nähen in Asien u. Autos montieren in Ungarn)

– Rund 300 000 Osteuropäerinnen (Verdi) sind in deutschen Haushalten als „Haushaltshilfen“ engagiert, die in der Regel auch Pflegearbeiten verrichten.

Eine Lebensweise, die auf derartigen Voraussetzungen beruht, bezeichnen wir als imperial.

Mit der Externalisierungsdiagnose kann und soll nicht „alles“ erklärt werden – wohl aber ist damit eine zentrale Dimension zum Verständnis historischer wie gegenwärtiger weltgesellschaftlicher Ungleichheitsmuster benannt. Dies wird schon seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten im globalen Süden gesagt und gedacht, aufgedeckt und offengelegt.

Diese vielfältigen und vielstimmigen Gegenbewegungen sind bislang nur nicht oder jedenfalls in unseren Breitengraden nicht breitenwirksam zur Kenntnis genommen worden.

Die imperiale Lebensweise der „überentwickelten“ Gesellschaften beruht zudem auf der Macht zur Unwissenheit, auf einem kollektiven Habitus, die Macht, sich über die Folgen seines Handelns nicht nur keine Rechenschaft ablegen, sondern diese nicht einmal zur Kenntnis nehmen zu müssen, das Recht auf Nicht-Wissen für sich in Anspruch nehmen zu können.

Der Kerngedanke des Begriffs imperiale Lebensweise ist, dass das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren wesentlich über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturverhältnisse andernorts ermöglicht wird: über den im Prinzip unbegrenzten Zugriff auf das Arbeitsvermögen und die natürlichen Ressourcen.

Der Begriff der „Imperialen Lebensweise“ verweist auf die Produktions-Distributions- und Konsumnormen, die tief in die politischen, ökonomischen und kulturellen Alltagsstrukturen und -praxen der Bevölkerung im globalen Norden und zunehmend auch in den Schwellenländern des globalen Südens eingelassen sind.

Während der Begriff der „Lebensführung“ darauf zielt zu begreifen, wie Menschen die Zumutungen neoliberal geprägter Arbeitsprozesse und Konsumzwänge bewältigen und in ihren Lebensentwürfen verarbeiten, fragt das Konzept der imperialen Lebensweise danach, wie die alltägliche Lebensführung unter neoliberalen Bedingungen auch deshalb gelingt, weil ihre sozial-ökologisch destruktiven Folgen externalisiert werden können.

Die imperiale Lebensweise setzt voraus, dass andere auf ihren proportionalen Anteil verzichten. Tun sie das immer weniger (Mittelschichten in den Schwellenländern), dann bleibt den kapitalistischen Zentren nur noch der Versuch, ihre Lebensweise durch Abschottung und Ausgrenzung exklusiv zu stabilisieren. So bringt die „bürgerliche Mitte“ genau das hervor, was sie als Widerpart begreifen: autoritäre, rassistische und nationalistische Bestrebungen die nach dem Motto agitieren: „Verbitterte und Verängstigte, vereinigt euch gegen die Schwachen, die Anderen und die Fremden“. Das mag derzeit Stimmen bei Wahlen bringen, ändert aber nichts an den Krisenursachen.

Die Versuche, die imperiale Lebensweise zu stabilisieren, führen zum weiteren Ausschluss bis zum Tod vieler Menschen, nehmen die ökologische Verwüstung und die prekären Arbeitsbedingungen in anderen Weltregionen bewusst in Kauf oder ignorieren sie.

Alles zu haben und noch mehr zu wollen ist kein Einstellungsprivileg derer „da oben“. Den eigenen Wohlstand zu wahren, indem man ihn anderen vorenthält, ist das unausgesprochene und uneingestandene Lebensmotto der „fortgeschrittenen“ Gesellschaften im globalen Norden – und ihre kollektive Lebenslüge ist es, die Herrschaft dieses Verteilungsprinzips und die Mechanismen seiner Sicherstellung vor sich selbst zu verleugnen. Im Weltmaßstab der nationalen Reichtumsverteilung gesehen, stehen nämlich wir Durchschnittsdeutsche „ganz oben“ – und sehen über die Verhältnisse „da unten“ gerne souverän hinweg. (Lessenich) Amerikanische Soziologen haben 2007 berechnet, dass praktisch alle Einkommensgruppen in den europäischen Ländern dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung zuzurechnen sind.

Rolf Gössner von der Internationalen Liga für Menschenrechte sagt es im Buch: „Todesursache Flucht“ so:

„Es wird keinen nachhaltigen Frieden und keine soziale Gerechtigkeit geben ohne eine radikale Änderung der aggressiven Wirtschafts- und Agrarpolitik, der ausbeuterischen Welthandels- und Rohstoffpolitik sowie der bisherigen Sozial- Umwelt- und Klimapolitik. Denn es sind gerade auch die kapitalistische Wirtschaftsweise und unser westlicher Konsum- und Lebensstil, die anderswo töten und Menschen zur Flucht zwingen.“

Multiple/Vielfach- Krise und sozial-ökologische Transformation

Der Begriff „Transformation“ bedeutet, dass die ökologische Krise in einen breiteren Kontext wie der Begriff „Nachhaltigkeit“ gestellt wird. Es geht um fundamentale Veränderung, die Werte und Routineverhalten hinterfragt, herausfordert und vormalige Perspektiven verändert.

Unter der Überschrift Nachhaltigkeit gibt es breite gesellschaftliche Diskussionen über die ökologische Krise – Klimawandel, Energiewende, Mobilität, Landwirtschaft – auf der anderen Seite schreitet die Umweltzerstörung schneller voran. Es ist paradox.

Der Ressourcenverbrauch hat sich seit 1970 verdreifacht, der sozial-ökologische Umbau ist bei Weitem nicht ausreichend. Mehr noch: er wird durch höchst dynamische nichtnachhaltige Entwicklungen konterkariert….größere Autos, steigender Flugverkehr und Fernreisen, Fleischkonsum auf hohem Niveau und die ökologisch wenig nachhaltig produzierten Smartphones wurden in den letzten Jahren fest im Alltag der Menschen verankert.

Der Widerspruch zwischen Meinungsumfragen und dem Alltagshandeln ist significant.

Die schwierigsten Veränderungen der Großen Transformation sind jenseits der Technologien angesiedelt – etwa die Veränderung von Lebensstilen, eine globale Kooperationsrevolution, die Überwindung von Politikblockaden sowie ein verantwortungsvoller Umgang mit generationenübergreifenden Langfristveränderungen.

Grenzen sozial-ökologischer Transformation

– Zwei Drittel der Menschheit lebt noch nicht einmal in einer Industriegesellschaft – und ein erheblicher Anteil davon unternimmt enorme Anstrengungen, damit ihre Gesellschaften sich industrialisieren – und zwar auf einer fossilen Energiebasis.

– Es wird davon ausgegangen, dass innerhalb des bestehenden, wenn auch reformierten Institutionensystems grundlegende Transformationsprozesse zu bewerkstelligen sind. Ausgeblendet bleibt dabei die Tatsache, dass Investoren auch künftig darauf achten werden, Natur nach Möglichkeit als „Gratisproduktivkraft“ zu nutzen. Und viele KonsumentInnen wollen weiterhin möglichst billig und viel kaufen. (Werbemaschinerie)

– Trotz aller Anerkennung der multiplen Krise bleibt der Transformationsbegriff weitgehend auf Aspekte einer ökologischen Modernisierung beschränkt. Klassische Fragen gesellschaftlicher Transformation, nämlich jene nach Gerechtigkeit, einem guten Leben für alle und der Zurückdrängung von Macht- Herrschafts- und Eigentumsverhältnissen sind deutlich unterbelichtet.

So bedeutsam die sozial-ökologische Transformation auch ist, so wenig kommen die darin entworfenen Strategien an einen Kern der ökologischen Krise heran: Die imperiale Lebensweise.

Die Verbrennung von fossilen Ressourcen sowie der strukturelle Zwang zu einem prinzipiell unbegrenzten Wirtschaftswachstum werden zwar vielerorts als Problemkern höchst bedrohlicher Krisen erkannt. Die ihnen entsprechende Wahrnehmungs- und Handlungsmuster haben sich aber in die politischen Institutionen, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und den Alltagsverstand der Menschen in einer Weise eingeschrieben, dass zwar ihre begrenzte ökologische Modernisierung, nicht aber ihre grundsätzliche Überwindung denkbar erscheint.

Die historische Entstehung der imperialen Lebensweise

„Die Weißen haben Afrika als illegale Einwanderer betreten. Oder hatte irgendein Sklavenjäger ein Visum?“ (sagt ein Flüchtling im Buch: Todesursache Flucht)

Die imperiale Lebensweise war Teil der Kolonialisierung ab dem 16. Jahrhundert, während der immer neue Räume durch die oftmals gewalttätige kapitalistische Landnahme durchdrungen und in Wert gesetzt wurden. Bereits damals basierte die Produktivitäts- und Wohlstandsentwicklung in den Metropolen auf einer für sie vorteilhaften Weltressourcenordnung, die zunächst von Spanien und Portugal, dann vom holländisch

dominierten Handelskapitalismus abgesichert wurde.

Insbesondere in den lateinamerikanischen Kolonien prägte die entstehende imperiale Lebensweise der Zentren die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Naturverhältnisse ganz entscheidend.

Das bis heute bestehende System des Ressourcenextraktivismus wurde damals installiert.

Plantagenbesitzer, Bergbaubetreiber, Kolonialverwaltungen der Adel und das städtische Handelsbürgertum dominierten die Gesellschaften. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Gold und Silber, Agrarprodukte wie Kaffee, Zucker und Tabak durch unfreie Arbeitskraft nach Europa geschafft.

Gualcaipuro Cuatemoc ist eines der Stammesoberhäupter Lateinamerikas. Im Jahr 2002 erinnerte er die Europäer in einer Rede an ihren Kredit, den sie vor 500 Jahren bei den Ur-völkern Lateinamerikas aufnahmen. Seine Abrechnung öffnet die Augen und ist längst überfällig. Er sagt u.a.:

Im Westindien-Archiv steht Seite für Seite, Beleg für Beleg und Unterschrift für Unterschrift, dass allein zwischen 1503 und 1660 etwa 185 000 Kilo Gold und 16 Millionen Kilo Silber aus Amerika nach San Lucas de Barrameda kamen. Dieses Gold und Silber müssen als erster von vielen weiteren freundschaftlichen Krediten Amerikas betrachtet werden, bestimmt für die Entwicklung Europas. Deswegen, zum fünften Jahrhundert der Staatsanleihe, fragen wir uns: Haben die europäischen Brüder einen sinnvollen, vernünftigen oder wenigstens produktiven Gebrauch des so großzügig vom Internationalen Indoamerikanischen Fond vorgestreckten Kapitals gemacht? Wir bedauern, mit Nein antworten zu müssen.“

(„Die Abrechnung“ von Dirk C. Fleck – im Magazin Rubikon)

Der Sprung ins 20. Jahrhundert: Die zunehmend ressourcenintensive fordistische Lebensweise bedurfte der undemokratischen Nord-Süd-Verhältnisse. Das wird besonders deutlich am Erdöl. Es kommt zur Kooperation zwischen kapitalistischen Staaten und Unternehmen des globalen Nordens mit konservativen Bewegungen und Regierungen des globalen Südens, um den Zugang zu den Erdölvorkommen zu ermöglichen.

Die Ansprüche der Lohnabhängigen auf ein besseres Leben wurden in der Wachstumsphase des globalen Kapitalismus vor allem in den Ländern des globalen Nordens mehr oder weniger erfüllt.

Verlierer sind vor allem die Staaten Afrikas, aber auch Asiens, Lateinamerikas und der Karibik. Es sind die Staaten, die es nach der Befreiung aus der kolonialen Besetzung nicht geschafft haben, ein effektives Staats- und Bildungssystem aufzubauen, es sind Staaten mit weit verbreiteter Korruption und schlechter Staatsführung. Im internationalen Gefüge sind sie nur als billige Rohstofflieferanten und im Gegenzug als Abnehmer von Industrieprodukten und überschüssigen (oft minderwertigen) Nahrungsmitteln interessant. Ihre Bevölkerung ist in ihrer Mehrheit zu Armut und Elend verdammt. (Attac)

Imperiale Automobilität

Bei den aktuellen marktförmigen und technologiefixierten Strategien einer „Ökologisierung“ der Automobilität, handelt es sich um den Versuch, die imperiale Lebensweise durch die selektive ökologische Modernisierung eines ihrer zentralen Bereiche auf Dauer zu stellen.

Die entscheidenden Fragen nach der Vermeidung und Verkürzung von Verkehrswegen sowie ihrer Umweltverträglichkeit werden kaum gestellt. Ihre Beantwortung würde es erfordern, Fragen der Mobilität in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext und unter Suffizienzgesichtspunkten zu thematisieren. Hier aber würde es ans Eingemachte der imperialen Lebensweise und der ihr zugrunde liegenden sozialen Verhältnisse und Subjektivierungsformen gehen.

Ulrike Fokken sagt in der TAZ vom 5.3.2018: (Verzicht bedeutet Freiheit)

Unser kollektiver Lebensstil der vergangenen 200 Jahre hat Katastrophen ausgelöst, die wir auch mit nachhaltigem, grünem Öko-Lifestyle nicht mehr einholen. Die Alternative zum eigenen Auto ist eben nicht das Elektroauto. Die ökologisch vertretbare Alternative heißt gar kein Auto.

Falsche Alternativen. Von der Grünen Ökonomie zum grünen Kapitalismus

Fakt ist, dass es sich bei der Annahme, unter kapitalistischen Verhältnissen sei eine absolute Entkopplung des Wachstums vom Ressourcenverbrauch denkbar, um eine mehr als kühne Hoffnung handelt.

Bei der „grünen Transformationsdebatte“ geht es in erster Linie darum, die ökonomischen und politischen Eliten nicht zu verschrecken und ihnen den sozial-ökologischen Umbau möglichst schmackhaft zu machen . „Der Natur einen Preis geben. Dann kann die bestehende Wirtschaft so bleiben wie sie ist.“

(Fatheuer, Fuhr, Unmüßig – Kritik der Grünen Ökonomie)

Konturen einer solidarischen Lebensweise

Gegenhegemonie gegen die imperiale Lebensweise bedeutet neben der Auseinandersetzung um wirtschaftliche und politische Strategien auch, bestimmte Formen des Alltags nicht mehr leben zu wollen bzw. ganz praktisch nicht mehr zu leben. Neben der Orientierung an vielen guten Beispielen gehört auch die Bereitschaft dazu, die eigene Lebensweise zu hinterfragen.

Eine grundlegende gesellschaftliche Transformation führt dazu, dass Viele – in unterschiedlichem Ausmaß – verlieren – und müssen dies, weil das, was sie tun, nicht verallgemeinerbar ist, sondern zulasten anderer geht. Bernd Sommer und Harald Welzer bezeichnen diese Notwendigkeit treffend als „Deprivilegierung derjenigen Gruppen und Individuen, die heute von wirtschaftlichen Strategien profitieren, die die Lebenschancen heute und künftig lebender Menschen massiv beeinträchtigen“.

Es geht nicht ums Verzichten, sondern ums Ersetzen, um die Frage, was und wie viel „genug“ ist. Menschen sind mit ihren Vorstellungen vom guten und richtigen Leben in der Lage, sich im individuellen Spiel Grenzen zu setzen. Scheitert das, kommt es zu Spiel- oder Kaufrausch, zu Drogenabhängigkeit oder zu einem Übermaß an Arbeit.

Die Konturen einer solidarischen Lebensweise zeigen sich in den vielfältigen existierenden Diskussionen und Praxen, die die Gesellschaft von ihren Rändern aus grundsätzlich infrage stellen. Wichtig ist, dies überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, es zu erweitern und den Alternativen die Möglichkeit einzuräumen, sich zu stabilisieren und zu reflektieren.

Es geht bei der Transformation im Wesentlichen darum, soziale Beziehungen zu verändern: von Beziehungen der Konkurrenz zu Beziehungen der Kooperation und Solidarität. Es muss Raum für Menschen geben, die die Verhältnisse fundamental kritisieren, die nicht glauben, dass sich die Krise alternativlos nur noch pragmatisch und realpolitisch verwalten lässt.

Was passiert aber, wenn Menschen ihre eigene Gier, Angst und Wut nicht einmal wahrnehmen? Schließlich verzerrt auch der „Zorn auf das Unrecht“ die Züge, wir Bert Brecht sagte; und die bisherigen Versuche, die Welt zu verändern, ohne sich selbst zu ändern, sind allzu oft in Terror gemündet.

Es gilt aufzuspüren, welche Lebensfragen im Dasein der Menschheit zu Antworten drängen und geahnte Antworten dem Unausgesprochenen zu entreißen. Das könnte den Inhalt einer modernen linken Erzählung ergeben. Das ist nicht einfach zu realisieren, weil insbesondere kollektiven Akteuren wie progressiven Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden immer wieder das kurzfristige Handeln zur ersten Aufgabe wird.

Globale Probleme, so Rob Nixon, „lassen sich nicht einfach durch das aggregierte Handeln verantwortungsbewußter Individuen lösen“. Gefragt sind nicht nur viele Einzelbeiträge; Gefragt ist vor allen Dingen echte Kollektivität.

Dazu gehört zum einen die kollektive Selbstverständigung über eine Reihe von – wohlgemerkt: viel weniger von uns als für viele andere – bitteren Wahrheiten: dass unsere wohlstandskapitalistische Lebensweise nicht verallgemeinerbar ist; dass sie auf unerträglichen Lebensbedingungen andernorts beruht und allein auf dieser Basis aufrechterhalten werden kann; dass die Umstellung auf eine Politik gleicher Lebenschancen im Weltmaßstab unser gesellschaftliches Leben massiv verändern wird. Und zum andern bedarf es einer kollektiven Selbstermächtigung, eines gemeinsamen Handelns im Sinne der

Herstellung solch gleicher Lebenschancen – aufbauend auf einer überlokalen und transnationalen Allianzbildung zwischen den vielen tausend Initiativen und Organisationen, Netzwerken und Bewegungen, die heute schon, im globalen Süden wie im globalen Norden, für eine Welt der gleichberechtigten Lebensführung aller Menschen streiten.

Die Einsicht in die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Umlenkens führt diese nicht automatisch herbei; wo ein Wissen ist, da ist noch lange kein Weg. Die Überwindung der Externalisierungsgesellschaft steht vor einem entscheidenden Dilemma, das sich aus der Überlagerung bzw. Durchkreuzung von nationalen und globalen Ungleichheitsstrukturen ergibt. Denn auch wenn es richtig ist, dass sich praktisch die gesamte Bevölkerung Deutschlands – und selbst noch der unterprivilegierteste Haushalt – materiell besser stellt als ca. 85 % der Menschen auf der Welt, sind die massiven sozialen Ungleichheiten hierzulande natürlich nicht wegzureden. Wir leben alle in einer Wohlstandsgesellschaft – und doch gibt es kein wohlstandsgesellschaftliches „Wir“. Daraus ergibt sich eine vertrackte Interessenkonstellation und mithin ein fundamentales politikstrategisches Problem: Wie für mehr Gleichheit im globalen Maßstab streiten, ohne die berechtigten Ansprüche auf Gleichheit – im nationalen Kontext zu missachten?

Wenn eigene Privilegien innerhalb der eigenen Gesellschaft, aber eben auch andernorts auf Ausbeutung und Zerstörung basieren, dann gilt es auch, so banal und schwierig es auch ist, Empathie zu üben. „Welche Leben – beispielsweise von Menschen, die ich nicht kenne, nicht „verstehe“, ja die mich vielleicht sogar abstoßen – werden als betrauerbare Leben und als Leben, auf die ich bezogen bin, mit denen ich „verbunden“ bin, anerkannt?“

(Verachtete Indigene weltweit und „Arme u. Ausgegrenzte“ hierzulande)

Stephan Lessenich sagt in der TAZ vom 23. 12.2018 (Fraglos schreiten wir voran)

Gleichgültigkeit ist eine soziale Beziehung – eine Beziehung der Beziehungslosigkeit. Wir handeln so, als ob das alles nichts mit uns zu tun hätte: Die Toten im Mittelmeer und die Hetzjagden auf Andersaussehende, die Rückhaltelager in Nordafrika, die Arbeitsbedingungen in Südostasien, die Umweltzerstörungen in Lateinamerika. Das Elend der Welt, die Verdammten dieser Erde – not our business. So wir nicht sogar noch Geschäfte damit machen.

Gerd Rathgeb

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Der Begriff Distribution stammt aus dem Lateinischen (distributio)[1] und bezeichnet die gesamtwirtschaftliche Verteilung von Distributionsobjekten, darunter zählen Waren, Dienstleistungen, Rechte, Entgelte sowie Informationen.

Das Verb aggregieren bedeutet „anhäufen“, „zusammenballen“, „zusammenführen“ oder „zusammentragen“.