Staatsanwaltschaft Hamburg stellt Ermittlungen ein

„Wir, die Überlebenden, verraten von Deutschland“
So titelte am 29.5.2015 die italienische Zeitung Il Tirenno.

Unsere Besuchergruppe, die sich anlässlich der Einweihung der Cappellina am 2. Juni in Sant’Anna aufhielt, konnte hören und spüren, wie entsetzt, verletzt und enttäuscht die Überlebenden Enrico Pieri, Enio Mancini, Adele Pardini und viele andere über die Verfahrenseinstellung gegen Gerhard Sommer sind.   Enio Mancini: „Es ist eine sehr bittere Enttäuschung, auf die ich schon teilweise vorbereitet war, weil man schon sah, dass es in diese Richtung ging. Sie haben zu lange gewartet. Ich glaube, man zog die Dinge hinaus, damit die Beschuldigten älter würden und der Fall sich löste, ohne dass es zu einem Prozess kommen würde… Die Richter haben sich selbst keinen guten Dienst erwiesen und sie machen der Justiz keine Ehre. Ich kann dies nicht schlucken, weil es nicht gerecht ist, dass diese Kriminellen als unbescholtene Bürger sterben, denn als solche gelten sie ja in Deutschland. Es geht hier nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit, und die hat es nicht gegeben. Diese Täter sind ungestraft davongekommen, so wie die italienischen Faschisten, die an dem Massaker beteiligt waren.“ (zitiert nach der Tageszeitung „Il Tirreno“ vom 29.5.15, übersetzt von L.B.)
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Die Hamburger Staatsanwaltschaft hatte am 27.5.2015 die Ermittlungen gegen den letzten verbliebenen Beschuldigten aus dem Stuttgarter Verfahren eingestellt. Die Begründung: Sommer ist aus gesundheitlichen Gründen verhandlungsunfähig.

Gabriele Heinecke, die Anwältin des Überlebenden und Nebenklägers Enrico Pieri, zeigte sich ebenso enttäuscht und entrüstet, vor allem über die Art und Weise, wie das ärztliche Gutachten zustande kam, u.a. in einem Interview mit der tageszeitung vom 28.5.2015:

„Unsere Kritik ist, dass die Feststellung der Verhandlungsunfähigkeit wegen der Angaben von Herrn Sommer und seiner Tochter geschah und keine anderen Quellen, etwa Mitarbeiter aus der Seniorenanlage, in der er wohnt, oder Therapeuten, die mit ihm umgehen, befragt wurden, um das Ganze zu objektivieren.“

Sie konnte dem Einstellungsbescheid allerdings auch eine positive Seite abgewinnen:

„Man muss unterscheiden, dass die Staatsanwaltschaft endlich anerkannt hat, dass Herr Sommer Kompaniechef war am 12. August 1944, dass er Verantwortung für das Massaker trägt. Wenn er nicht als verhandlungsunfähig eingeschätzt würde, wäre er anzuklagen und vor Gericht zu stellen.
(taz) Das ist erstmals so formuliert worden?
Genau. Insofern ist dieser Einstellungsbescheid prima.“

Dann gab es noch einen Seitenhieb in Richtung der Stuttgarter Justiz:
„Was die Verzögerung anbelangt, so muss man eher nach Stuttgart schauen, wo dieses Verfahren zehn Jahre herummoderte, ohne dass irgendetwas Sachdienliches in der Angelegenheit geschehen ist.“

Abschließend kündigte Anwältin Heinecke an, Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung einzulegen:
„Sicher muss sich die Staatsanwaltschaft darüber klar werden, ob der Mensch noch verhandlungsfähig ist. Aber gerade wenn vorher ein Gutachten die Verhandlungsfähigkeit festgestellt hat, sollte man nicht wieder ein angreifbares Ergebnis präsentieren. …
Wir legen Beschwerde ein und beantragen, dass externe Quellen befragt und möglicherweise andere Experten herangezogen werden.“
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Foto: Eberhard Frasch