Stuttgarter Delegation vor der Kappele in St. Anna, wo die Kinder aus dem Dorf vor dem Massaker immer spielten

Ansprache am 8.12.2012 in Sant‘ Anna di Stazzema (Eberhard Frasch)

Stuttgarter Delegation vor der Kappele in St. Anna, wo die Kinder aus dem Dorf vor dem Massaker immer spieltenLiebe Überlebende des Massakers von Sant‘ Anna di Stazzema,
liebe Siria Pardini, lieber Enio Mancini, lieber Enrico Pieri und lieber Mario Ulivi!

Es ist eine große Ehre für uns, für uns Gäste aus Stuttgart, hier zu sein, Sie zu treffen und mit einer
solchen Offenheit und Freundlichkeit empfangen zu werden. Ich möchte besonders betonen, dass
dieser warmherzige Empfang für uns nicht selbstverständlich ist – nach den Ereignissen des August
1944 hier –und denen des Oktobers 2012 in Stuttgart. Und für mich persönlich ist es eine große
Ehre heute zu Ihnen zu sprechen. Ich danke ihnen sehr, dass Sie hier sind und mir zuhören!

Wenn ich an die tragischen Ereignisse von Sant‘ Anna denke, erscheint mir in meinem Inneren ein
Bild: Ein Junge im Alter von zehn Jahren steht an der Haltestelle und wartet auf den Bus. So wartet
er jeden Dienstag an dieser Stelle nach seiner Klavierstunde, er wartet vor einem besonderen
Gebäude, einem Gefängnis.

Was ich, der zehnjährige Junge, nicht wissen konnte: kurze Zeit später wurde das Gefängnis
geschlossen und eine andere Einrichtung hierher verlegt – eine sehr wichtige, nicht immer effektive
Einrichtung, mit einem komplizierten Namen, abgekürzt „Zentrale Stelle … zur Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen“. Hier wurden Tausende Dokumente gesammelt, geprüft und
analysiert, auch Teile des Inhalts des „Schranks der Schande“ – Sie kennen ihn – und Dokumente
des Massakers von Sant‘ Anna.

In meinem Inneren verschwimmen die Bilder ineinander: Der Junge an der Bushaltestelle dreht sich
um, schaut zurück und sieht seine Schwestern, seine Brüder von Sant‘Anna, wie sie geschlagen
oder mit dem Tode bedroht oder getötet werden von den barbarischen Soldaten der Waffen-SS.
Er hört die Hilferufe, möchte ihnen helfen, aber er kann es nicht. Er wird diese Eindrücke nie
vergessen. Wahrscheinlich, nein, sicher wie Siria Pardini, Enio Mancini, Enrico Pieri und Mario Ulivi
und all die anderen Überlebenden.

Was will mir und uns dieses Gefühl der Geschwisterlichkeit heute sagen? Das Wichtigste ist: Auch
wenn dies alles sehr bedrückend ist, ich freue mich, wir freuen uns sehr, Sie hier zu sehen, lebend,
und die Möglichkeit zu haben, Ihnen zu begegnen. Und: Wir sind auf Ihrer Seite, wenn es darum
geht, die ganze Wahrheit der tragischen Ereignisse des August 1944 aufzudecken. Wir sind auf
Ihrer Seite, wenn es darum geht, Sie zu unterstützen, weitere Schritte zu unternehmen mit dem Ziel,
die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Stuttgart zu revidieren.

Wir haben Ihnen vorhin im Museum zwei Geschenke übergeben: das eine das Ergebnis einer
Spendensammlung in Stuttgart. Wir versprechen, diese Sammlung fortzusetzen. Das andere das
Buch der Solidarität, das Ihnen gewidmet ist. Diese Geschenke können nur symbolische Gesten,
ganz bescheidene Gesten darstellen.

Zum Schluss noch eine Erinnerung von mir an einen sehr bewegenden Moment: In den
Neunzigerjahren habe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern den Priebke-Prozess in Rom
besucht, und am Ende einer Sitzung hat mir der Sohn eines der Opfer des Massakers in den
Ardeatinischen Höhlen die Hand gegeben und mit Tränen in den Augen die Worte gesprochen:
„Es ist das erste Mal, dass ich das mit einem Deutschen mache, nach so vielen Jahren.“
Auch wir sind heute hier in Sant‘ Anna von Ihnen mit großer Gastfreundschaft, mit großer
Herzlichkeit empfangen worden. Wir danken Ihnen sehr für Ihre Herzenswärme in dieser Zeit der
kalten Winde – in mehrfacher Bedeutung dieses Ausdrucks.

Wir versprechen: Wir werden die Informationen, die Botschaften, die wir von Ihnen erhalten haben,
nach Hause, nach Stuttgart, nach Deutschland bringen – und die tiefen Eindrücke von diesem
einzigartigen Ort und seinen einzigartigen Menschen.

Wir danken Ihnen allen!

Version wie am 8.12.2012 auf Italienisch gehalten

Foto: Jens Volle