Gedenkveranstaltung in Cannstatt zur Pogromnacht 1938

Sa, 9. November 2019, 18:00 Uhr - 19:00 Uhr
Ehemalige Synagoge Cannstatt, König-Karl-Straße 47, 70372 Stuttgart
Veranstalter: Bündnis zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht in Cannstatt
Wichtiges:

Mit Reden von:
Martin Poguntke, Pfarrer i.R. und „Dipl.-Päd.“,
Sidar Carman, Gewerkschaftssekretärin bei ver.di Stuttgart,
VertreterIn des Antifaschistischen Aktionsbündnis Stuttgart und Region (AABS)

Moderation: Joe Bauer (Autor und Betreiber des Flaneursalons)
Musik: Freier Chor Stuttgart mit antifaschistischen Liedern

Aufruf:
Am Abend des 9. November 1938 stürmten gut organisierte SA- und SS-Truppen hunderte Synagogen, tausende Geschäfte und Wohnungen und setzten sie in Brand. Zehntausende wurden von SS und Gestapo verhaftet, über 100 ermordet.

Jüdinnen und Juden wurden ihres Besitzes beraubt, zur Auswanderung gezwungen, in den Selbstmord getrieben, in Konzentrationslager verschleppt und in den Gaskammern ermordet. Das Pogrom war Teil der Vorbereitung auf die planmäßige Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas im Rahmen des Eroberungs- und Vernichtungskrieges, mit dem die Nazis die Welt überzogen.

Die Pogromnacht in Stuttgart
Die Synagoge in Cannstatt wurde von Feuerwehrleuten und einigen Nazis angezündet.

Eine Cannstatterin erinnert sich an die jüdischen Geschwister Buxbaum in der Zieglergasse 1: „Ich war zufällig Augenzeuge, als Anhänger der SA in Uniform mit Spitzhacken die Fenster des Metzgerladens zertrümmerten. Es war grausam! Danach waren beide Buxbaums verschollen.“ Sie trauten sich nicht mehr an die Öffentlichkeit.

Am 1. Dezember 1941 erfolgte die erste Deportation von ca. 1.000 württembergischen Jüdinnen und Juden vom Killesberg ins KZ Riga-Jungfernhof. Den größten Teil von ihnen erschossen die Faschisten umgehend in einem Wäldchen in der Nähe Rigas.

Von den 261 Jüdinnen und Juden, die 1933 in Cannstatt wohnten, wurde am 1. März 1943 als letzter Cannstatter Dr. Ernst Reichenberger nach Auschwitz deportiert, wo er ums Leben kam. Mehr als 100 jüdische BewohnerInnen Cannstatts wurden Opfer der „Endlösung“.

1. September 1939 – Überfall auf Polen – industrielle Ermordung der Juden
Auf die Pogromnacht folgte die Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939, mit dem Überfall auf Polen begann am 1. September der 2. Weltkrieg.

Die jüdische Bevölkerung Polens wurde in Ghettos eingepfercht, im Warschauer Ghetto bis zu eine halbe Million Menschen. Mit dem Einmarsch in die Sowjetunion begannen die ersten Massenmorde. Jüdische Frauen und Kinder wurden zu „wertlosen Essern“ erklärt, die man nicht als Arbeitskraft ausbeuten könne. Damit wurde über alle Juden das Todesurteil verhängt. Im nationalsozialistischen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz / Birkenau führte der Lagerkommandant Rudolf Höss im Sommer 1941 mit sowjetischen Kriegsgefangenen erste Versuche zum industriellen Massenmord mit Zyklon B durch. Dabei wurde auf die „Erfahrungen“ der Euthanasie-Morde z.B. in Grafeneck zurückgegriffen. Bei der Auswahl der Opfer wirkte der frühere „Euthanasie“-Arzt Dr. Schumann aus Grafeneck mit. Allein in Auschwitz wurden 1,1 Millionen polnische Juden und Jüdinnen „vergast“.

Jüdischer Widerstand
Als die massenhafte Ermordung der jüdischen Bevölkerung bekannt wurde, und die Deportationen aus den Ghettos begannen, entschlossen sich verschiedene jüdische Organisationen zum Widerstand. So auch die Widerstandkämpferin Vitka Kempner aus dem litauischen Ghetto Wilna, die 1942 bei Wilna einen Wehrmachtszug, der Waffen an die Ostfront transportierte, in die Luft sprengte. Weitere Aktionen folgten. Der jüdische Dichter Hirsh Glik widmete ihr das bekannte jüdische Partisanenlied „Still, die Nacht ist voller Sterne“.

Etwa eineinhalb Millionen Juden kämpften im Zweiten Weltkrieg in den Armeen der Alliierten, in den Reihen der Partisanen, in Untergrundbewegungen und Ghettos gegen die deutschen Faschisten. Hunderttausende fielen im Kampf.

Der Jahrestag der Pogromnacht ist für uns Anlass, den Opfern des deutschen Faschismus zu gedenken
So wie das Pogrom am 9. November, so waren auch die anderen Verbrechen des deutschen Faschismus geplant und vorbereitet worden. Die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung, rassistische Hetze und schließlich Krieg und die Shoah begannen am 30. Januar 1933, als Reichspräsident Hindenburg auf Betreiben von Teilen der Großindustrie, der Banken und der Generalität Hitler zum Reichskanzler ernannte.

Die neue Regierung versprach die Wiederherstellung der militärischen Schlagfähigkeit, die Eroberung von Rohstoffquellen und Märkten und somit Weltmachtstatus. Als Voraussetzung hierfür sicherten sie die Zerschlagung der ArbeiterInnenbewegung zu.

6 Millionen JüdInnen fielen der Shoa zum Opfer. Unzählige KommunistInnen, SozialdemokratInnen, GewerkschafterInnen, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere, die nicht ins faschistische Weltbild passten, wurden bereits ab dem 30. Januar 1933 verfolgt, verhaftet und ermordet. Schätzungsweise 80 Millionen bezahlten mit ihrem Leben, davon alleine 27 Millionen SowjetbürgerInnen. Europa lag in Trümmern.

Und heute?
Heute kennen die meisten diese Zeit nur aus Geschichtsbüchern oder Erzählungen und vieles scheint so anders als damals. Grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Verhältnisse und einige politische Entwicklungen heute lassen sich allerdings erschreckend gut mit denen vom Ende der 1920er-Jahre vergleichen: Wie damals nutzen auch heute Rechtspopulisten und Faschisten die offensichtlichen Missstände eines kriselnden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und die Ängste der Menschen, um ihre eigene Agenda zu verwirklichen. Geflüchtete, Jüdinnen und Juden oder Menschen, die sich gegen Menschenfeindlichkeit einsetzen, werden zu Sündenböcken und als Schuldige für jede Ungerechtigkeit erklärt.

Beinahe im Wochentakt werden neue rechte Untergrund-Netzwerke bekannt, die sich mit Waffen, Trainings und detaillierten Plänen auf die Ermordung ihrer GegnerInnen vorbereiten.

Diese Entwicklungen dürfen uns nicht entmutigen; vielmehr muss uns der Blick in die Vergangenheit bestärken, diesem Rechtsruck mutig die Stirn zu bieten. Es darf nicht nur bei einer Symptombekämpfung bleiben; wir müssen den ganzen Sumpf austrocknen, der Armut, Krieg, Unterdrückung und den Faschismus in sich trägt. Deshalb beziehen wir uns auf den Schwur der Gefangenen des KZ Buchenwald, die sich im April 1945 selbst befreiten: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Wir fordern:

  • Jeglichem Antisemitismus entgegentreten!
  • Rassismus und Faschismus den Nährboden entziehen – gegen Sozialabbau und Arbeitsplatzvernichtung!
  • Aktives Eintreten gegen Aufrüstung, Krieg und Kriegsvorbereitung!
  • Gleiche Rechte für alle hier lebenden Menschen!

Von deutschem Boden darf kein Krieg und Faschismus ausgehen!