Mahnwache in Stuttgart gegen Hamburger Entscheidung

2015-06-12 Mahnwache alle ausschnitt

Am Freitag, 12. Juni 2015, fand in Stuttgart auf dem Schillerplatz (vor dem Justizministerium) die 19. Mahnwache “Gerechtigkeit für Sant’Anna” statt.

Wir protestierten gegen die Entscheidung der Hamburger Staatsanwaltschaft, das Verfahren gegen den letzten mutmaßlichen Täter von Sant’Anna, Gerhard Sommer, einzustellen.

Warum in Stuttgart?

Die Gefahr, dass ein Strafverfahren zu diesem Massaker vor einem deutschen Gericht niemals stattfinden wird, hat sich auf dramatische Weise zugespitzt. Die Begründung der Hamburger Staatsanwaltschaft, der Beschuldigte sei aus gesundheitlichen Gründen nicht verhandlungsfähig, lässt erwarten, dass die „biologische Lösung“ zum Tragen kommt: Die Ermittlungen werden solange hinausgeschoben, bis keiner der Täter mehr am Leben ist.

Das Fundament der „biologischen Lösung“ wurde in Stuttgart gelegt:  die Stuttgarter Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen jahrelang verschleppt, sie geradezu nachlässig und schlampig geführt (verantwortlich OStA Häußler), die Generalstaatsanwaltschaft hat ihre Pflichten der Dienstaufsicht vernachlässigt, die jeweiligen Justizminister (zuletzt: Stickelberger) haben ihr Weisungsrecht nicht ausgeübt.

Wir erinnern mit unserem Protest an die Verantwortung der Stuttgarter Justiz !

LINK: Vorabsendung von Radio Dreyeckland

Etwa 20 Personen waren der Einladung zur Mahnwache gefolgt und hatten sich vor dem Stuttgarter Justizministerium eingefunden – bei fast tropischen Temperaturen, zum Glück mit polizeilicher Genehmigung auf einem Schattenplatz. Die Teilnehmenden trugen Plakate, auf denen die Hauptverantwortlichen für die Versäumnisse der Justiz und der Politik benannt waren:
die Justizminister Goll und Stickelberger, die Generalstaatsanwälte Pflieger und Brauneisen, Oberstaatsanwalt Häußler.

Thomas Renkenberger begrüßte die Anwesenden und führte in die nachfolgenden Redebeiträge ein, zuerst Gunther Leibbrand:

„Liebe hier versammelte Mitstreiterinnen und Mitstreiter für einen längst überfälligen Prozess auf deutschem Boden gegen eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Italien!

Es geht uns immer noch um das gleiche leidige Thema: Wir schämen uns hier demonstrativ und öffentlich, dass den am 12. August 1944 ermordeten Kindern, Frauen und älteren Männer in Sant’Anna di Stazzema bis heute nicht posthum die Ehre der Ahndung dieses Verbrechens zuteil und den Überlebenden die Genugtuung eines Prozesses auf deutschem Boden immer noch vorenthalten wird.

Verwundert nehmen wir zur Kenntnis, dass das Verfahren nun auch in Hamburg eingestellt wurde, obwohl den zuständigen Richtern die Sache selber nicht strittig erschien – ein wesentlicher Fortschritt: den damaligen Kompaniechef Gerhard Sommer schuldig zu sprechen sei sehr wahrscheinlich, allein sei nicht wahrscheinlich, dass der Angeklagte den gesamten Prozess im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte durchstehen werde.

Es sei mir erlaubt folgendes anzumerken:

Wenn den Richtern alles klar ist – immerhin hat im Jahr 2005 ein Militärgericht in La Spezia auch Gerhard Sommer des Mordes schuldig gesprochen, und dieses Urteil wurde durch zwei Obergerichte bestätigt – wieso muss es dann einen langen Prozess geben?

Wieso kann das italienische Urteil nicht einfach übernommen werden, damit es endlich Genugtuung gibt für die Menschen in Sant’Anna? Zudem steht die Einschätzung des medizinischen Gutachtens über die Verhandlungsfähigkeit des anzuklagenden Gerhard Sommer auf schwachen Füßen, insofern es sich im Wesentlichen stützt auf die Aussagen des Anzuklagenden selber und dessen Tochter. Deshalb erging gegen den Einstellungsbeschluss Beschwerde. Wir sind also einige Schritte weiter als die Zuständigen hier in Stuttgart es für juristisch möglich und denkbar gehalten hatten.

Das ist nicht wenig, obwohl es nicht genug ist!

Nicht genug ist es für die direkt betroffenen Menschen, die das Blutbad überlebten, damals als Kinder. Die Wut und das Entsetzen über diese Art von humaner Justiz, der es zuallererst um das Wohl und den Respekt vor dem Täter geht und die offensichtlich kaum die Opfer im Blick zu haben scheint, haben wir gesehen und auch gespürt, als wir vom 29. Mai bis zum 3. Juni dort waren.“

Gunther Leibbrand berichtete anschließend von den Eindrücken, die er und die anderen Mitglieder der Stuttgarter Besuchergruppe bei ihrem Aufenthalt in Sant’Anna gesammelt haben, von einer Historikerkonferenz „zu dem Thema der bisher noch nicht stattgefunden habenden juristischen Aufarbeitung der von Italienern zu verantwortenden Kriegsverbrechen“ und nicht zuletzt von den Feierlichkeiten am 2. Juni, mit denen die Cappellina eingeweiht und ein Beitrag der württembergischen Landesregierung zur Kirchplatz-Gestaltung durch Kultusminister Stoch übergeben wurde. Er schloss mit den Worten:

„Wir haben verstanden, dass die Erhaltung der Kapelle Teil der Rekonstruktion einer Welt ist, die es einmal gab und die wiedererstehen soll, wenn es denn möglich ist. Die renovierte Kapelle als Platzhalterin für ein Urteil, das immer noch verweigert wird. Wir werden dran-bleiben und keine Ruhe geben: eine andere juristische Entscheidung ist möglich.“
… weiter zum vollen Wortlaut

Eberhard Frasch stellte seinen Beitrag unter die Überschrift „Wiedernichtgutmachung“.

Er spielte mit dieser Wortschöpfung auf die in mehrfacher Hinsicht bis heute nicht erfolgte juristische Aufarbeitung des Massakers von Sant’Anna an, auf die Verantwortung der Justizbehörden in Hamburg und Stuttgart, des baden-württembergischen Justizministers sowie auf die Verweigerung von Entschädigungen für die zivilen Opfer von NS-Verbrechen. Aber auch aktuell auf die Verwirrung um den Begriff Wiedergutmachung, der von der Landesregierung in Bezug auf ihren 30 000 Euro-Zuschuss ins Spiel gebracht und von den Medien in verkürzter Form aufgegriffen worden war.

„Herr Kretschmann hat richtig gehandelt: Er hat die Leute aus Sant’Anna hier in Stuttgart empfangen und ernsthaft mit ihnen gesprochen. Er hat die Absicht entwickelt, ihnen ein Zeichen der Solidarität zu geben und dieses mit dem Zuschuss zum Kirchplatzprojekt zu konkretisieren. Falsch war aber es aus unserer Sicht, dies als Wiedergutmachung zu bezeichnen.

Herr Stoch hat richtig gehandelt: Er hat den Zuschuss nach Sant’Anna überbracht, er hat dort – wie unsere ebenfalls anwesenden Leute berichten – angemessen gesprochen und ist gut mit den Menschen im Gespräch gewesen, er zeigte sich sehr bewegt, er widersprach ausdrücklich der Anwendung des Begriffs Wiedergutmachung auf seine Gabe. Nur: Bei seiner Richtigstellung ging wieder etwas schief. Er ließ seinen Sprecher erklären: ‚Uns ist es wichtig, das Thema aus der juristischen Debatte stärker herauszuholen und als ein Thema der Erinnerungskultur und der Mahnung zu platzieren*. In beiden Fällen: das Gute gemeint und das Falsche gesagt.“

Am Ende forderte er die Verantwortlichen in Stuttgart auf, sich klar zu positionieren, vielleicht mit einer „2. Stuttgarter Erklärung“:

„Ich empfehle diese Worte als Einstieg ‚Wir klagen uns an …‘. Und in Anlehnung daran die Formulierung: ‚Wir bekennen, dass wir – die Landesregierung, der Justizminister, der Staatsanwalt – dass wir wesentliche Verantwortung dafür tragen, dass es in Hamburg zur Verfahrenseinstellung gekommen ist.‘ Das könnte man  g u t   m a c h e n   statt von Wiedergutmachung zu reden. Und entsprechend handeln. Enrico Pieri und Gabi Heinecke, wir stehen an eurer Seite bei der Beschwerde gegen die Hamburger Entscheidung!“
… weiter zum vollen Wortlaut

 Fotos: Thomas Renkenberger